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Wahlperiode 12, Band I, Seiten 30 und 31
30
Enquete-Kommission

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS/Linke Liste)

Lassen Sie uns Bedingungen schaffen, damit in Deutschland nie wieder ein
System entstehen kann, das Menschen in so unwürdige Situationen brachte,
daß erwachsene Menschen die Polizei fragen mußten, ob sie ihren Vater
oder ihre Mutter, ihren Bruder oder ihre Schwester zum Geburtstag besuchen
durften. Nie wieder soll es ein System geben, das Menschen nötigt, um
Erlaubnis zu bitten, den verstorbenen Vater oder Freund auf seinem letzten
Weg begleiten zu dürfen, und das dies oft noch untersagte.

Lassen Sie uns Gerechtigkeit wiederherstellen: helfen und unterstützen, heilen
und erklären, begreifen, verstehen, versöhnen. Lassen Sie uns, soweit wir das
überhaupt vermögen, dazu die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen.

Ich verschweige es an dieser Stelle nicht: Kein Verständnis habe ich für
diejenigen, die dieses – zum Glück vergangene – diktatorische System noch
immer für akzeptabel und – wenngleich modifiziert – für erstrebenswert
halten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Fragen warten auf eine Antwort,
Fragen nach den Grundlagen und den Strukturen, nach den Ängsten und
Versuchungen der 16 Millionen Ostdeutschen und den Einwirkungen und dem
Desinteresse der 64 Millionen Westdeutschen. Es sind zugleich Fragen nach
dem ganz alltäglichen Verhalten der Deutschen, speziell – aber nicht nur – in
der DDR in den letzten 45 Jahren.

Wir werden die Gründe für ihre und unsere Lebensversuche zwischen
Verführtwerden, Gleichgültigkeit und Unterdrückung erforschen müssen. Wir
werden dabei vermutlich feststellen, daß es nur ganz, ganz wenige Helden
und leider mehr schuldige Täter und deren Handlanger gegeben hat. Wir
werden aber auch erkennen, daß die meisten weder Helden noch Verbrecher
waren, sondern einfach darum bemüht gewesen sind, möglichst aufrecht
und möglichst ehrlich, vielleicht auch möglichst bequem mit ihren kleinen
und großen Kompromissen durchs Leben zu kommen, oft genug eingeengt,
gepeinigt, gebrochen.

Wir werden uns alle gemeinsam und gesamtdeutsch fragen müssen, was wir
mit unserer Geschichte machen. – Mit einer hoffentlich ganz allgemeinen
und ganz unterschiedlichen Auseinandersetzung in vielen Bereichen unserer
Gesellschaft sorgen wir dafür, daß die leidvollen Erfahrungen dieser letzten
45 Jahre für uns sogar noch zu etwas Helfendem und Heilendem werden
könnten.

Die große und wichtige Aufgabe dieser Enquete-Kommission kann nur
gelingen, wenn wir sie partnerschaftlich und nicht zänkisch, verständnisvoll

31
Debatte des Deutschen Bundestages 12.3.1992

und ehrlich angehen. Viele Menschen werden erwartungsvoll, gespannt und
hoffentlich voller Vertrauen auf uns schauen. Erweisen wir uns dieses
Vertrauens würdig.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/
GRÜNE)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Abgeordnete Willy
Brandt.

Willy Brandt (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Weg
zur Verwirklichung der deutschen Einheit ist steiniger und wird, wie wir alle
wissen, auch teurer, als die meisten angenommen hatten. Ich bin darüber
hinaus gewiß nicht der einzige, der den Eindruck hat: Die immateriellen Folgen
der Spaltung und die Nachwirkungen des SED-Regimes könnten die Kräfte
stärker und länger binden, als dies zu verantworten wäre.

Ich füge mit Bedacht hinzu: Das Denken vieler – dies kann gar nicht anders
sein, zumal in dem, wie wir früher sagten, anderen Teil Deutschlands – konzen-
triert sich auf die Zukunft. Sie sehen nicht ein, warum ihnen rückwärtsgewandt
ein schlechtes Gewissen verordnet werden sollte. Das muß man sehen, und
man muß es respektieren.

Das Zusammenwachsen jedenfalls ist ein widerspruchsvoller Prozeß. Damit er
gut verläuft, darf man einerseits nicht zulassen, daß der Mantel des Verschwei-
gens über gravierendes Unrecht ausgebreitet wird, auf der anderen Seite aber
auch nicht hinnehmen, wenn dem vergangenen System durch grassierende
Verdächtigung und langwirkende Vergiftung nachträgliche Triumphe beschert
werden.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

„Vergangenes“ – ich zitiere – „ist immer ein Stück des Gegenwärtigen.
Erinnerung darf nicht selektieren, sie muß alles umfassen.“ Manchmal haben
es auch kleine Bücher in sich. Das, in dem dies steht, ist von einem Teilnehmer
am Rußlandkrieg. Wer wollte dem widersprechen? Und dennoch: Wer könnte
von sich behaupten, daß er immer alles bedacht, „alles umfaßt“ habe?

Wir können wohl immer nur Annäherungswerte erzielen. Das gilt auch für
Kommissionen. Ob es der Enquete-Kommission, die wir heute gemeinsam
einsetzen wollen, gelingen wird, einen wesentlichen Beitrag zu dem zu leisten,
was hier „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur“

genannt wird, das muß sich in dem Umfang zeigen, in dem diese Kommission
versucht, möglichst viel Wesentliches zu umfassen, wobei Wesentliches
natürlich auch im Detail enthalten sein kann, jedenfalls im Leben der vielen
einfachen Menschen, nicht nur solcher, die für prominent gehalten werden
oder sich selbst dafür halten.