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Wahlperiode 12, Band VI/2, Seiten 1134 und 1135
 

Josef Pilvousek

„Innenansichten“
Von der „Flüchtlingskirche“ zur „katholischen Kirche in
der DDR“

 

 

Die katholische Kirche auf dem Gebiet der neuen Bundesländer ist seit
der Reformation eine Minderheitenkirche gewesen. Erst seit dem Ende des
18. Jahrhunderts wurde sie quantitativ durch verschiedene Zuwanderungen,
vor allem aus katholischen Teilen Deutschlands und Europas, bedeutsam.
Infolge der Fluchtbewegungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges sowie der
sich anschließenden politischen Umbrüche änderte sich die Situation für die
katholische Kirche in diesem Raum grundsätzlich, ohne daß sie aber den
Charakter einer Diasporakirche je verloren hätte. Die Katholikenzahlen stiegen
in solchem Ausmaß, daß zahlreichen Neugründungen von Pfarreien und
Gottesdienststationen notwendig wurden. Die jurisdiktionellen Verhältnisse
waren – abgesehen von den Bistümern Berlin und Dresden – weitgehend
ungeklärt und bedurften einer Neuordnung. Die Mobilität der Vertriebenen
und die vorerst weiter bestehende Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat
verhinderten eine schnelle Integration in die Stammgemeinden. Die Mentalität
der vertriebenen Volksgruppen prägte zunehmend bestehende Frömmigkeits-
formen und somit die Seelsorge. Als politische Entscheidungen der Hoffnung
auf Rückkehr der Flüchtlinge ein Ende setzten und die innerdeutsche Grenze
errichtet und immer undurchlässiger wurde, mußten von kirchenamtlicher
Seite Möglichkeiten gesucht werden, der Kirche in diesem Raum Wege in
die Zukunft zu eröffnen. Zunächst nur als Provisorien und Interimslösungen
gedacht, entstanden allmählich feste Strukturen und Organisationsformen.
Die folgenden Ausführungen wollen die Entwicklung der katholischen Kirche
auf dem Gebiet der SBZ/DDR von einer Flüchtlingskirche zu einer Ortskirche,
die sich als „Kirche in der DDR“ verstand, aufzeigen.

1135
Katholische Kirche

1. Flucht oder Bleiben? Ein traditionelles Problem der DDR-Katholiken1

1.1. Statistische Grundlagen

Die nachfolgenden Zahlen sollen Entwicklungen und Tendenzen aufzeigen.
Der vom Alliierten Kontrollrat erlassene Ausweisungsplan, der am 20. 11.
1945 in kraft trat, sah die Ausweisung von insgesamt 6,65 Millionen Menschen
vor. Davon sollten 3,9 Millionen Deutsche auf dem Gebiet der Westsektoren
aufgenommen werden, 2,75 Millionen auf dem Gebiet der SBZ. Die erwartete
Zahl wurde schließlich mit 12 Millionen weit übertroffen, die geplante
Ordnung wich z.T. chaotischen Verhältnissen.

Vor dem Krieg hatte es auf dem Gebiet der späteren SBZ/DDR ca. 1.081.000
Katholiken gegeben. Von 1945 bis 1949 erhöhte sich die Gesamtzahl der
Katholiken durch die Vertreibung auf 2.772.500, das entspricht einer Zunahme
von 156 %. Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 20 Millionen im Jahre 1949
betrug der Anteil der Katholiken somit 13,9 %.

Näherhin bedeutete dies: Lebten im Gebiet des Kommissariates Meiningen vor
dem Krieg etwa 7.200 Katholiken, so waren es 1949 97.000, eine Zunahme
von 1.111,1 %. Auf dem Gebiet des späteren Bischöflichen Amtes Schwerin
gab es vor dem Krieg 29.977 Katholiken, 1949 waren es 303.000, also 910,8 %
mehr. Das Gebiet des Erzbischöflichen Kommissariates Magdeburg zählte vor
dem Krieg 150.000 Katholiken, 1949 710.000, eine Zunahme um 373,3 %. Im
Bistum Meißen lebten vor 1945 209.000 Katholiken, 1949 731.000, 249,8 %
mehr. Vor dem Krieg hatte das heutige Bischöfliche Amt Erfurt (ohne
Meiningen) 132.777 Katholiken, 1949 444.300, eine Zunahme von 234,6 %.
Görlitz, mit 52.433 Katholiken vor dem Krieg, zählte 1949 695.000. Das
entspricht einer Zunahme von 95,8 %. Für das Bistum Berlin gibt es für den
Zeitraum 1945 bis 1949 nur gemeinsame Angaben für Ost- und Westberlin
sowie seine Gemeinden in der SBZ. Demnach hatte Berlin vor dem Krieg
500.000 Katholiken, 1949 695.000. Das entspricht einer Zunahme von 25,6 %.
Um die seelsorgliche Betreuung der Vertriebenen wenigstens einigermaßen
zu gewährleisten, wurden zahleiche neue Pfarreien und Gottesdienststationen
errichtet. Im Bistum Berlin gab es 1945 187 Pfarreien, 1948 bereits 235. Die
Zahl der Gottesdienststationen erhöhte sich in diesem Zeitraum von 25 auf
78. Im Bereich der heutigen Apostolischen Administratur Görlitz existierten
1945 29 Pfarreien, 1948 55. Die Anzahl der Gottesdienststationen wuchs

 

  1. Die folgende Untersuchung gründet in der Vorentscheidung, innerkirchlichen Statistiken beispielsweise den vom Bonifatiuswerk in Paderborn geführten, den Vorrang vor denen offizieller Handbücher zu geben (die Zahlen der kirchlichen Statistiken liegen z.T. erheblich höher als die Angaben der staatlichen statistischen Handbücher) sowie den Begriff „Flüchtling“ als Oberbegriff für alle Gruppen von Flüchtlingen, Ausgewiesenen und Heimatvertriebenen zu verwenden. Vgl., auch zum folgenden, insbesondere zu den Statistiken, J. Pilvousek, Flüchtlinge, Flucht und die Frage des Bleibens, in: Die ganz alltägliche Freiheit (= EThSt 65) Leipzig 1993, 9–23.