
Fehler melden / Feedback
Menschen sind voller Haß. Arbeitsstellen und traditionelle Märkte brechen im
Osten Deutschlands weg; neue wachsen viel langsamer nach. Arbeit, die in
DDR-Deutschland so sicher schien und überall zu haben war, ist scheinbar
zur Mangelware für Privilegierte geworden. „Wendehälse“ und „Spiralen“ sind
wieder die Bestimmer und die Erfolgreichen. Wir hatten so auf das Westgeld,
den Westen und die Westler gehofft – und nun dauert alles viel länger, die
Probleme sind so groß und kompliziert, unsere Möglichkeiten aber geringer
als wir dachten. – Wenn Wünsche nicht in Erfüllung gehen, tut das weh!
Haben wir da nichts Wichtigeres zu tun als nachzudenken und zu fragen, was
von 1945 bis 1989 in der DDR – und warum – geschah?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde, auch wenn ich diese Frage
wegen der Sorgen, aus denen sie entsteht, verstehe, es ist eine kurzsichtige
Frage. Jeden Tag holt uns unsere Vergangenheit ein, wir werden uns erinnern
müssen, wir werden uns fragen und erklären müssen, miteinander und
voneinander reden müssen... Weißt Du noch, zum Beispiel, wie die Elbe
und die Werra immer schmutziger wurden, bewaldete Hügel im Erzgebirge
immer kahler, Halle und Görlitz und Berlin immer altersschwächer, der Boden
um den Schweinestall an der Orla immer giftiger, das Telefonnetz und die
Schienen immer schlechter, der Mangel immer größer, der Lug und Trug
immer frecher? Weißt Du noch, wie die Politiker immer dümmer wurden,
die Stasi immer dreister, die Flüchtenden und Ausreisenden immer mehr, die
Resignierten immer grauer, die Kinder immer erwachsener, die Republik, die
DDR immer kaputter, am Tropf, zum Sterben bestimmt?
Und das war so unter anderem, weil die Regierenden nicht sehen wollten,
was war und was ist – und weil wir zu brav waren, zu still waren, zu
gehorsam waren, zu ängstlich waren, zu erpressbar waren, zu gleichgültig und
zu bequem, weil wir uns eingerichtet hatten. Wir haben uns – viele von uns 16
Millionen Ostdeutschen – ein anderes, ein bunteres, ein freieres, ein ehrlicheres
Leben gewünscht, aber wir wollten es nicht erzwingen, sondern geschenkt
erhalten. Wir wollten es umsonst bekommen von Gorbatschow, von Konrad
Adenauer, von Kurt Schumacher, von Ludwig Erhard, von Willy Brandt und
Helmut Kohl, durch das Grundgesetz, die DM, die soziale Marktwirtschaft,
die Demokratie, die EG. Nun haben wir dieses Geschenk – mit kleinem,
aber beachtlichem Eigenbeitrag – geschenkt bekommen. Wenn wir dieses
neue Leben nicht wieder verlieren wollen, müssen wir es alle nachträglich
gewinnen. Auch dazu sind wir, so meine ich, heute hier, als Betroffene, als
Aufarbeitende, als Beschenkte, als Gebrauchte, als solche, denen genommen
wurde, als solche, für die fast alles neu ist, die vieles lernen müssen. Vor allem:
die Wahrheit sagen, verstehen und vergeben können, im neuen Haus sich
zurechtfinden, erinnern und vorausplanen, ungeduldig und geduldig sein.
Zuletzt liebe Freunde, es liegt noch viel vor uns. Unsere Gegenwart ist erst
730 Tage alt, unsere 40-jährige Vergangenheit erst 2 Jahre vergangen. Wir
werden unsere Aufgabe nur dann erfüllen können, wenn wir sie als eine
gesamtdeutsche Aufgabe und als eine für uns alle verstehen. Lassen Sie bitte
unser heutiges Unternehmen dafür exemplarisch sein. Danke schön.
Archiv Bürgerbewegung e.V. Leipzig: Wir sind ein Verein. Gegründet wurde
dieser gemeinnützige Verein vor 1 1/2 Jahren von jungen Leuten, die 1988/89
in Leipzig verschiedene Demonstrationen vorbereiteten und im Herbst 1989
das Kontakttelefon organisierten. Wir gehörten ganz unterschiedlichen Oppo-
sitionsgruppen an und sind auch heute unterschiedlich politisch engagiert, so
daß die Arbeit im Archiv für alle nur einen Teil ihres kulturellen und politi-
schen Engagements ausmacht. Die Arbeit unseres Vereins ist folgendermaßen
strukturiert:
Einerseits recherchieren wir, um so in sinnvoller Weise unseren Dokumen-
tenbestand zu erweitern, andererseits sind wir ein öffentliches Archiv, also
in gewisser Weise ein Dienstleistungsunternehmen für Historiker. Außerdem
versuchen wir, durch Öffentlichkeitsarbeit und Mitarbeit in anderen Initiati-
ven uns an der Diskussion über die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu
beteiligen. Damit dies plastisch wird, ein paar kurze Bemerkungen zu diesen
Punkten.
Also anfangs haben wir zusammengetragen, was wir bei uns selber gefunden
haben, also Flugblätter, Briefe, Sitzungsprotokolle und so etwas. Auf die-
sem Wege entstand schnell eine repräsentative Sammlung von Dokumenten
Leipziger Basisgruppen und der politischen Vereinigungen der sogenannten
Wende. Doch dabei haben wir es nicht belassen, sondern sind auf Politiker
zugegangen und haben sie um die abgelegten Unterlagen z. B. der Runden
Tische, Bürgerkomitees und der jeweiligen Parteien gebeten. Außerdem re-
cherchieren wir in den verschiedenen Archiven der Stadt nach Zeugnissen
des zivilen Ungehorsams. Dies ist natürlich, wie Sie wissen, nicht einfach,
da die Archive zum großen Teil bis heute verschlossen sind. Durch Annon-
cen und Anfragen versuchten wir außerdem Zeugnisse von einzelnen über
ihren Widerstand gegen die SED-Diktatur zu erhalten. Auf diesem Wege
hoffen wir, wichtige Details über den Widerstand gegen die SED-Diktatur
zu erschließen. Bis jetzt haben wir schon 70 Aktenordner bzw. Archivboxen
mit entsprechenden Dokumenten anlegen können. Alle Dokumente wurden
durch unseren Archivar, Uwe Schwabe, elektronisch gespeichert und so für
eine Bearbeitung effektiv bearbeitet. Außerdem stellen wir eine Zeitungs-
und Zeitschriftenschau über DDR-Vergangenheit zusammen. Alles, was wir
gesammelt haben, kann bei uns eingesehen werden. Wochentags ist unser
Archiv zur Allgemeinnutzung geöffnet. Da Leipzig in Westeuropa und in
Amerika Symbol für das Ende der kommunistischen Diktaturen ist, haben
wir besonders aus Frankreich, England und Amerika viel Besuch. Großes
Interesse erweckt unsere Sammlung an politisch-kulturellen Drucken. Deut-
sche Wissenschaftler nutzen unseren Fundus jedoch kaum. Deshalb haben wir