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Wahlperiode 13, Band V, Seiten 20 und 21
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Protokoll der 32. Sitzung

traditioneller Religiosität? Wie wurde die Freizeit gestaltet, welche Rolle
spielten Kultur und Sport im Nahbereich?

Generell stellt sich die Frage: Wo bzw. inwieweit war eigenverantwortliches
oder gar autonomes Handeln im Alltag möglich und wurde praktiziert? Zu fra-
gen ist nach den Grenzen der „Durchherrschung“ der Gesellschaft, nach dem
sozialen und kulturellen „Eigensinn“. Die Reihe der Fragen läßt sich unschwer
verlängern. Viele dieser Fragen lassen sich nur durch mikrohistorische Studien
beantworten; die „oral history“ kann dabei ein wichtige Methode sein, die
freilich der umsichtigen Handhabung bedarf. Dies bedeutet aber, daß die Ge-
schichte des Alltags zusammen mit den Menschen, die in der DDR gelebt ha-
ben, zu erarbeiten ist.

Mein vorletzter Punkt: Die Relevanz der Alltagsebene für das SED-System.
Das skizzierte Ineinander von Politik und Gesellschaft läßt die Frage entste-
hen, welche Bedeutung der Alltag der vielen für das politische System hatte.
Auch in diesem Zusammenhang ergeben sich Fragen: Inwieweit haben All-
tagsprobleme die politischen Instanzen beschäftigt, inwieweit waren sie für
diese lösbar? Das Politbüro kümmerte sich jedenfalls durchaus um vielfältige
Fragen, die der Alltagsebene zuzuordnen sind. Hat das System, hat die Partei
Alltagsverhaltensmuster genutzt, etwa mentale Prägungen, die sich in früheren
Epochen gebildet hatten? Wo verliefen im Alltag die Grenzen der Diktatur?
Sind sie überhaupt bestimmbar? Haben Alltagsprobleme zur Delegitimation
des SED-Systems entscheidend beigetragen? Sind sie eine wesentliche oder
gar die entscheidende Voraussetzung für die „friedliche Revolution“ und die
Vereinigung 1989/90?

Generell interessiert auch aus der Sicht des Alltags das Funktionieren des Sy-
stems, das nicht ausschließlich auf Gewalt basierte. Gerade aus der Perspektive
des Alltags läßt sich – wie Thomas Lindenberger zurecht betont hat – „Herr-
schaft als soziale Praxis“ untersuchen. Keine Frage, daß die Machtmittel zwi-
schen „Herrschenden“ und „Beherrschten“ asymmetrisch verteilt waren. Und
doch gab es auch Abhängigkeiten der „Herrschenden“ von den „Beherrsch-
ten“, beide standen in Interaktion, es gab in gewisser Weise ein Geben und
Nehmen. Fragen kann man in diesem Kontext nicht nur nach Gegensätzen,
sondern auch nach gemeinsamen Interessen und Wertvorstellungen von Herr-
schenden und Beherrschten gegenüber Außenstehenden, Fragen, die sehr diffe-
renziert zu beantworten sind. Inwieweit gelang es dem System mit welchen
Mitteln, Unterstützungen zu gewinnen? 1989/90 jedenfalls funktionierte das
System weder „oben“ noch „unten“: Das Ende der DDR und der anderen
kommunistischen Systeme hat man vereinfacht mit dem Bonmot charakteri-
siert, daß „die oben“ nicht mehr konnten und „die unten“ nicht mehr wollten.

Nun zu meinem letzten Punkt, den Nachwirkung des DDR-Alltags heute. Die
Lebensverhältnisse seit 1990 haben sich in den neuen Ländern bzw. bei den
Menschen, die zuvor in der DDR gelebt haben, radikal verändert: der früher
geregelte Alltag ist viel weniger geregelt, bisherige Routinen und Beziehungs-

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Selbstbehauptung und Anpassung

geflechte sind mehr oder weniger obsolet geworden; der neue Alltag scheint
vielfach noch nicht selbstverständlich, d. h. gleichsam „fragwürdig“, zu sein.

Was ist aus dem DDR-Alltag erhalten geblieben? Inwieweit prägt der DDR-
Alltag heute noch die Erwartungen und Wertorientierungen der Menschen,
was löst heute aufgrund dieser Prägungen Irritationen aus: Inwieweit gibt es
noch ein starkes Bedürfnis nach Fürsorge durch den Staat? Wie kommt man
mit der verbreiteten Laissez-faire-Mentalität des Westens zurecht? Wie geht
man mental mit dem Phänomen neuer Ungleichheit um? Werden das Arbeits-
kollektiv und andere Organisationselemente vermißt? Zu fragen ist auch, in-
wieweit die Menschen ihre Erfahrungen in der DDR bewältigt haben, inwie-
weit sie sich bislang in den Aufarbeitungsprozessen wiedergefunden haben.

Zu recht hat der in Frankfurt/Oder lehrende Soziologe Detlef Pollack darauf
hingewiesen, daß die heutige Einstellung der Mehrheit in den neuen Ländern
nicht ausschließlich als das Weiterwirken von DDR-Sozialisation zu begreifen
ist. Eine wichtige Rolle spielen auch Erfahrungen des Transformationsprozes-
ses auf dem Hintergrund früherer Erwartungen.

Insgesamt gesehen muß die Aufarbeitung der Geschichte des SED-Systems
über die politischen Strukturen und Prozessen, die Fragen der Verantwortlich-
keit, über Repression und Opposition hinausgehen. In der DDR-Bevölkerung
gab es keine durchgängige alles erklärende Polarität von Tätern und Opfern.
Das Leben der vielen mit all seinen Ambivalenzen, wenn man so will: mit sei-
ner „Normalität“ muß in den Blick kommen. Gewiß darf dieses Leben nicht
idealisiert und idyllisiert werden. Gerade auch die dunklen Seiten, die Inhuma-
nität und Menschenverachtung, die Teil des SED-Systems waren, sind mitzu-
sehen. Doch muß das gesamte Leben in der DDR in der DDR differenziert
einbezogen werden. Viele Grautöne, so glaube ich, werden dabei sichtbar. Und
neben dem Willen des politischen Systems die Lebenswelten der Menschen
mit ihrem Eigensinn.

Vorsitzender Rainer Eppelmann: Herr Professor, wir danken Ihnen, mit
welchem Vollgas Sie uns heute Ihr Wissen kundgetan haben. Herzlichen
Dank, Sie haben auch erstaunlich gut die Zeit eingehalten. Ich möchte als er-
stes aber noch die Möglichkeit nutzen, den Minister Reiche freundlichst zu
verabschieden, der eine ganz wichtige Tagung zu leiten hat, wo es um die Wis-
senschaft in Berlin und Brandenburg geht. Wir wünschen Ihm eine gut Fahrt.
Herzlichen Dank, daß Sie hier waren. Da ich nicht annehmen kann, daß jeder
der hier Anwesenden das weiß, sei zur Information noch gesagt, daß Professor
Faulenbach sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission ist, und daß
er das auch in der vorigen Kommission schon gewesen ist. Er lehrt an der Uni-
versität in Bochum. Nun folgt Professor Maser. Er lehrt an der Universität
Münster. Auch er ist sachverständiges Mitglied dieser Enquete-Kommission.

Prof. Dr. Peter Maser: Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Daß es in der DDR an manchem gemangelt hat, wird
niemand bestreiten, der je im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem