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Wahlperiode 13, Band V, Seiten 92 und 93
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Protokoll der 32. Sitzung

vollkommen identisch gewesen. Aus dem Primat der Politik ergab sich aber
auch die Möglichkeit, aus politischen und ideologischen Motiven weitreichen-
de wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen und diese mit außerökonomi-
schen Mitteln durchzusetzen, auch gegen jede wirtschaftliche Vernunft. Primat
der Politik hieß auch Primat der Verteidigung und der Sicherheit. Wenn über-
all die „Bilanzen und Kapazitäten“, von denen wir vorhin gehört haben, knapp
waren, für die bewaffneten Organe war immer genug da. Das Zauberwort hieß
LVO, das heißt Landesverteidigungsobjekt, wo übrigens auch die privaten
Handwerker eingesetzt wurden. Die formal zuständigen regionalen und lokalen
Instanzen, also die Räte der Kreise, Städte und Gemeinden, hatten kaum noch
Einspruchsmöglichkeiten, wenn über die Partei Anforderungen von den „Or-
ganen“ kamen. Dringende Materialien wurden dann geliefert. Kapazitäten oh-
ne Rücksicht abgezogen und für besagte LVOs eingesetzt. In der Hierarchie
der Organe stand, wie man sich denken kann, die Staatssicherheit an erster
Stelle. Gefolgt von der NVA und dem MdI. Während der normale Eigenheim-
bauer – und normal war in diesem Punkt jeder unterhalb der Politbüroebene –
für ein Schornstein nur winzige Mengen Klinkersteine zugebilligt bekam und
für diese noch lange Bittgänge unternehmen und Schmiergelder zahlen mußte,
wurden an der Berliner Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, unweit der
Ausfallstraße Richtung Osten, weithin sichtbar gigantische Fassaden mit roten
Klinkern erbaut. Kaum ein Berliner Taxifahrer schenkte sich hier beim Vorbei-
fahren bissige Kommentare. Dem MfS, das sonst alles wußte, waren diese Zu-
sammenhänge offenbar verborgen geblieben. Aber auch die vielen kleinen
„Dienstobjekte“ der Staatssicherheit, die das Land zwischen Fichtelgebirge
und Rügen überzogen, erkannte man allen Regeln der Konspiration zum Trotz
an dem vergleichsweise guten baulichen Zustand. Während ansonsten der
Straßenbau sehr im argen lag, wiesen die charakteristischen Betonplattenwege
den Weg selbst zu den geheimsten Objekten der Stasi. Diese erkannte man
dann an den frisch gestrichenen Fassaden und den mit richtigen Dachziegeln
belegten Dächern, besonders aber an Gehwegplatten, gußeisernen Garten-
leuchten, Ziersteinen und anderen im Handel kaum erhältlichen Mangelpro-
dukten.

 

Primat der Politik hieß also Zuständigkeit der Verwaltung für alle wirtschaftli-
chen Angelegenheiten. Dies betraf nicht nur die zentralen Entscheidungen des
Politbüros oder des Ministerrates sondern reichte hinunter in die winzigste
Kleinigkeit der „örtlichen Versorgung“. Über die Errichtung oder Schließung
einer Verkaufseinrichtung entschied die Abteilung Handel und Versorgung
beim Rat der Stadt oder des Kreises. Natürlich hatte die Abteilung Bauwesen
hier mitzureden. Diese stellte die mehrfach erwähnten „Bilanzen und Kapazi-
täten“ entsprechend dem Jahresplan zur Verfügung. Oder eben nicht. Diese
Pläne waren freilich nur Papier und mußten gegen andere Interessen durchge-
setzt werden. Druck von unten war durchaus nicht sinnlos. Wenn es Be-
schwerden und Eingaben der Bürger, vielleicht „negative Diskussionen“ oder
sogar die Drohung der Wahlverweigerung gab, konnte das Anliegen der Er-
richtung einer Verkaufseinrichtung durchaus befördert werden. Dann wurde

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Selbstbehauptung und Anpassung

die Partei aktiv und über den Kreis oder sogar die Bezirksleitung kam die Wei-
sung auf der „Parteistrecke“, auch dies ein Wort aus der DDR. Aus dem Plan
einer Ladenöffnung wurde nun ein „Kampfziel“.

Die Durchführung der Maßnahme wurde unter Parteikontrolle gestellt. Wenn
es innerhalb der Instanzen Gegenstimmen gab, die für einen anderen Einsatz
der wertvollen Kapazitäten plädierten, konnten diese zum Schweigen gebracht
werden. Der Hinweis, die Neueröffnung der geplanten Verkaufseinrichtung bis
zur Volkswahl oder bis zum soundsovielten Parteitag sei eine politische Frage
genügte. Damit hatte jede Diskussion zu verstummen. In den innerparteilichen
Diskussionen der kommunistischen Parteien seit Stalins Zeiten war einer der
Standardvorwürfe stets der des Voluntarismus. Dies meint den irrigen Glau-
ben, allein durch den Willen – voluntas – unter mangelhafter Berücksichtigung
der objektiven Gesetze der Geschichte, die Entwicklung bestimmen zu können.
In diesem Vorwurf kommt das spezifische Spannungsverhältnis zwischen dem
revolutionären Aktivismus der politischen Praxis und der deterministischen
Prädestinationslehre des Marxismus-Leninismus zum Ausdruck. Dieser innere
Widerspruch in der marxistischen Lehre ist weder theoretisch noch praktisch
jemals bewältigt worden war. Denn der Vorwurf des Voluntarismus gegenüber
kommunistischen Parteiführungen war eigentlich immer berechtigt. Man
könnte ihn auch durch den Begriff des Fiktionalismus ersetzen. Grundlage je-
der Entscheidung waren ideologisch determinierte Fiktionen, deren rationale
Überprüfung das Ende der politischen Macht bedeutet hätten. Der Primat der
Politik bot kurzfristig die Möglichkeit, durch wirksame und sogar populäre
Maßnahmen den Unwillen der Bevölkerung zu steuern. Langfristig konnte am
Ende nur der ökonomische Kollaps stehen.

Gesprächsleiter Ilko-Sascha Kowalczuk: Danke, Herrn Dr. Wolle. Als näch-
ster spricht Karl-Heinz Baum über den Westen im DDR-Alltag, wobei ich be-
sonders gespannt bin, ob wir jetzt auch etwas über den im Westen sehr wohl
bekannten und beliebten Westkaffee erfahren werden.

Karl-Heinz Baum: Relativ wenig. Das liegt schon daran, daß ich Teetrinker
bin, und in der DDR wirklich darunter gelitten habe, daß ich fast nie Tee be-
kommen habe. Einmal sind mir drei verschiedene Teetassen am Abend bei
Freunden angeboten worden, erst so ein Früchtetee, dann ein anderer Früchte-
tee usw. Ich bin nicht so ein Kaffeetrinker, und wenn ich ehrlich bin, er ge-
hörte ja zu den üblichen Geschenken, die viele Besucher in der Regel mitge-
bracht hatten, aber das setze ich einfach mal als bekannt voraus. Ich fange mal
mit einer ganz anderen Geschichte an, die jedenfalls, wie die Beteiligten mir
versichern, verbürgt ist.

Ein Wissenschaftler nutzte einen Kongreß zum Absprung-West. Er sagte dem
Bruder Bescheid. Der wußte, was zu tun war: die besten Sachen aus der Woh-
nung holen, sichern vor der Staatssicherheit, die das Eigentum des „Republik-
flüchtlings“ beschlagnahmen würde. Der Bruder kam, fand das Familiensilber,
doch stellte er alles an den Platz zurück. Er fürchtete, nähme er etwas mit,
Mitwisser „wegen Nichtanzeige eines Verbrechens“ zu sein. Da fiel sein Blick