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Wahlperiode 13, Band V, Seiten 100 und 101
100
Protokoll der 32. Sitzung

ben Jahr fielen da nicht aus dem Rahmen. Schwarzarbeit mußte mit Westgeld
(oder zum 1:5-Kurs in Ost) bezahlt werden. Das „Schwarztaxi“ war meist er-
heblich teurer als das reguläre, das freilich nie kam. Auf dem Pferdemarkt in
Havelberg wurden in die DDR gelangte Westwaren zu Mondpreisen angebo-
ten: Rockgruppen auf Schallplatte oder Kassette waren am meisten gefragt.

Wer von der Stasi beobachtet wurde, aus welchen Gründen auch immer, auch
zufällig, hatte adrett, ordentlich und brav zu sein, alles andere galt als „west-
lich“. Über einen Korrespondenten vermerkt eine Akte: „In seinem Äußeren ist
F. fast schlampig. Man muß wissen, daß er nicht auf Anhieb als BRD-Bürger
erkennbar sein will.“ Nach dieser Logik wären das dann die DDR-Leute.

Einen Pastor aus Sachsen sah ein IM als „stark westlich orientiert“: „ein unan-
genehmes Äußeres, war nachlässig gekleidet und trug schulterlanges Haar.“ Es
waren wohl die Haare, die die anderen Attribute bedingten. Der Pfarrer „hatte
zwei Kinder ..... Sie trugen fast ausschließlich Sachen aus der BRD bzw. aus
dem Intershop.“ Um einen Westdeutschen näher zu bestimmen, sein Name ist
unbekannt, teilt ein IM 1982 mit, daß „dieser Igelschnitt trägt“, igitt. Einer
Frau, die „auf alles schimpft“, dichtet ein IM einen Ausreiseantrag an, sie hatte
keinen. Ob jemand „Sachen aus der BRD oder dem Intershop“ trug, war für
die Stasi wichtig für den Antrag auf Westreise. Danach wurden auch die Haus-
bewohner ausgefragt.

Der längste Versuch, westliche Einflüsse zurückzudrängen, dauerte über 28
Jahre: Abriegelung mit Mauer und Stacheldraht. Danach ging die DDR gegen
Antennen („Pfeilantennen“) vor, vergeblich: die Antennen kamen unters Dach.
Als Honecker von fünf Programmen sprach, die DDR-Bürger empfangen kön-
nen, waren die Antennen wieder da, gleich ausgerichtet. Erhöhter Pflichtum-
tausch wie Beschränkungen für akkreditierte Journalisten sollten Westeinflüsse
behindern. Bonner Verhandlungen mit der DDR-Regierung brachten wieder
mehr Einfluß ins Land, etwa über das Kulturabkommen. Vor den Weltfest-
spielen 1973 waren die „Organe“ großmütig zu den Jugendlichen, rigoros da-
nach. Das wiederholte sich vor und nach Honeckers Bonn-Besuch 1987. Erst
konnten unabhängige Gruppen für Frieden durch die DDR pilgern; danach
wurden sie behindert, wurde die Umweltbibliothek gestürmt, wurden Men-
schen bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration verhaftet.

Das Bild des DDR-Durchschnittsbürgers vom Westen und den Westdeutschen
war meilenweit von der Wirklichkeit entfernt. Es war ein indirektes Bild aus
dem Fernsehen, an Berichten Reisender aus Ost und West überprüft – ein Ide-
al, ausgerichtet an unbegrenzten Konsum-, Reise- und Arbeitsmöglichkeiten
nach dem amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär. Erfah-
rungen von Arbeitslosigkeit, damals von Westdeutschen vorgetragen, stießen
auf Unglauben oder wurden abgetan mit: „Wer arbeiten will, kriegt auch Ar-
beit.“ Zudem hatte damals ein Arbeitsloser-West mehr Geld „auf der Kralle“
als Werktätige im DDR-Sozialismus.

101
Selbstbehauptung und Anpassung

Obwohl die Bundesrepublik für die meisten Menschen in der DDR – ge-
schöntes Westbild immer bei der Hand – Wunschtraum war, erhielten schon da
die Bewohner dieses Staates keine guten Noten: unvollkommen, tolpatschig,
ohne Fingerspitzengefühl, arrogant waren noch die besten Noten. Zwei Län-
derspiele der bundesdeutschen Mannschaft erhielten diese Kommentare: Nr. 1:
„Toll, wie Deutschland gesiegt hat.“ Nr. 2: „Prima, daß diese Großgoschen
eins drauf gekriegt haben.“ Da war nicht mehr Deutschland, da waren nur die
Spieler gemeint.

Gerade Veränderungen der 68er Jahre gingen bei Menschen im Osten ziemlich
spurlos vorbei. Nur Intellektuelle und ein paar Kirchenleute waren interessiert.
Ostdeutsche sahen etwa „ Ho Ho Ho Chi Minh“-Rufe als Parteinahme für
Kommunisten. Sie übersahen, daß die Jugend eines ehemals staatsterroristi-
schen Landes nicht schweigen wollte, wenn ein kleines Volk womöglich unge-
recht behandelt würde. Das Schweigen zum falschen Zeitpunkt warfen sie ja
den Eltern vor. Damals kehrte sich die Jugend-West von Tugenden wie Zucht
und Ordnung ab: „Damit kann man Konzentrationslager leiten“ hieß der 68er-
Satz. Das kam im Osten nicht mehr an. Lieder wie „Sind so kleine Hände, soll
man sie nicht schlagen“ (Bettina Wegener) oder „Hallo, kleine Mutti, warum
schlägst Du denn Dein Kind?“ zeigen kulturelles Auseinanderdriften in West
und Ost. Dies könnte Ursache für die Mauer in den Köpfen heute sein.

Hätten die Deutschen-West unter gleichen Bedingungen leben müssen wie die
im Osten, sie hätten sich kaum anders, kaum mutiger verhalten. Der in den
Westen gekommene Schauspieler Manfred Krug legte 1979 darauf den Finger.
Packe man je 17 Millionen DDR-Menschen und Westdeutsche in zwei Säcke,
schütte sie auf der anderen Seite aus, brauchten Menschen wie Systeme „vier
Wochen Anpassungszeit“ und alles laufe wie zuvor. Westdeutsche können je-
denfalls froh sein, daß ihnen die Geschichte diese Prüfung ersparte. Welcher
Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg zu welcher Besatzungszone gehörte,
war Zufall. In Berlin kostete es bis 1961 20 Pfennig für die S-Bahn, um in die
andere Welt zu gehen. Nach dem Mauerbau sagten Jugendliche in der DDR
häufig: „Was kann ich dafür, daß ich auf dieser Seite der Elbe geboren wur-
de?“

Gesprächsleiter Ilko-Sascha Kowalczuk: Vielen Dank, Karl-Heinz Baum.
Herr Fritze, bitte.

Dr. Lothar Fritze: Meine Damen, meine Herren! Will man den geistig-emo-
tionalen Einfluß, den der Westen auf den DDR-Normalbürger ausübte, auf ei-
nen Nenner bringen, so müßte man sagen, es war der einer andauernden Ver-
lockung. Aus DDR-Sicht erschienen insbesondere die Konsum- und die all-
täglichen Lebensverhältnisse geradezu als glanzvoll. Zu allen Zeiten der DDR
dürfte es für eine große Mehrheit ihrer Bürger fraglos gewesen sein, daß man
im Westen – im ganzen gesehen – das bessere Leben führt. Das Wissen um die
real höheren Einkommen in Westdeutschland, den höheren Lebensstandard,
die kürzeren Arbeitszeiten oder den längeren Urlaub war Kernbestand dieser
Grundüberzeugung.