Fehler melden / Feedback
historiographischer Tätigkeit betrieben. Darunter waren Roginskij (später an
der Spitze von „Memorial“) und Jofe. Roginskij wurde für die Publikation des
historischen Samisdat-Sammelbandes „Pamjat“ verurteilt, Jofe für die Heraus-
gabe von „Kolokol“.
Im Lauf der Entwicklung des gesellschaftlichen Denkens in den 70er Jahren
verändert sich auch der Ton dieser Erinnerungen. Langsam verschwindet jene
– für die 50er und 60er Jahre typische – Gegenüberstellung, die die ehemaligen
Parteifunktionäre zwischen Lenin und Stalin trafen, man widmete sich eher der
Beschreibung des Lageralltages, der Details der erlebten Leiden. In den 70ern
schreibt man bereits ohne jede Hoffnung auf Veröffentlichung (wenn man die
Manuskripte nicht in den Westen schmuggelt oder im Samisdat herausgibt).
Man schreibt für künftige Generationen, oft ganz konkret für die eigenen En-
kelkinder.
Dazu lädt auch die – bei allen negativen Seiten – doch relativ große Stabilität
der Breschnjew-Zeit ein. Es besteht jetzt eben doch die Möglichkeit, ein eige-
nes Heim zu haben (und sei es auch nur ein eigenes kleines Zimmer) und das
Manuskript zu Hause aufzubewahren ohne ständige Durchsuchungen fürchten
zu müssen.
2.4. Die GULAG-Erinnerungen der Perestrojka-Zeit
Mit der Machtübernahme durch Gorbatschow beginnt eine grundsätzlich neue
Etappe, die in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden kann.
a) Erste Phase 1987 bis 1991
Zum ersten Mal seit der Chruschtschow-Zeit erwacht in der sowjetischen Ge-
sellschaft großes Interesse am Thema Repressionen sowie an der Lagerthema-
tik, die nur langsam aufhört, verboten zu sein. Allmählich beginnen Veröffent-
lichungen von Lagererinnerungen, die früher gar nicht, oder nur im Westen
erscheinen konnten. Die ehemaligen Stalinopfer haben jetzt keine Angst mehr,
über ihre Vergangenheit zu sprechen, im Gegenteil, diese Vergangenheit wird
zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. Zum ersten Mal bekommt
die Lagerbiographie eine öffentlich anerkannte soziale Bedeutung. Die Erinne-
rungen an den GULAG werden zur wertvollen Quelle und dies um so mehr,
als die Erinnerung in diesem Moment und vorläufig noch die einzige Quelle
ist, aus der man die historische Wahrheit über die Repressionen schöpfen kann.
Auch bekannte Persönlichkeiten – Wissenschaftler, Schauspieler, Schriftsteller
– die früher nicht gerade dazu neigten, ihre GULAG-Vergangenheit öffentlich
zu betonen, beginnen jetzt, ihre früher geschriebenen Erinnerungen zu veröf-
fentlichen oder diese jetzt niederzuschreiben.9 Jene Lagerinsassen, die die neu-
en Zeiten noch erleben, beenden ihre Erinnerungen oder überarbeiten sie zum
Teil. Angehörige bringen die Erinnerungen von Verstorbenen in die Verlage
- Folgende Autoren sollen hier erwähnt werden: Dmitrij Lichatshow, Georgij Schenow, Walerji Frid.
und zu den Zeitschriften. Das Thema wird zum meistverbreiteten in den Mas-
senmedien.
b) Die zweite Phase 1992 bis 1995
Das Interesse an der GULAG-Thematik wird in dieser Zeit deutlich geringer.
Wegen der wirtschaftlichen Krise entstehen bei vielen nostalgische Gefühle.
Man sieht sich gerne alte Filme aus der Stalinzeit an, die das Fernsehen kom-
mentarlos spielt, man hört alte Lieder. Und obwohl die Verlage zum Teil wei-
ter Erinnerungsbücher herausbringen, werden diese mit wachsender Müdigkeit
und Gleichgültigkeit aufgenommen. Auch der Mangel an neuen, talentierten
Texten wirkt sich negativ auf die Verlagstätigkeit aus. Das allmähliche Öffnen
der Archive, das in der zweiten Hälfte 1991 begann und der Beginn der Veröf-
fentlichung von Archivdokumenten verringern das Interesse an der Erinne-
rungsliteratur weiter.
c) Die letzte Phase 1996 bis 1997
Die allgemeine Situation stabilisiert sich, die Aufmerksamkeit, die man jetzt
der Lagerthematik schenkt, ist weniger politisch gefärbt, weniger fieberhaft
und teilweise spekulativ wie das Ende der 80er Jahre war. Die GULAG-Erin-
nerungsliteratur wird weiter verlegt, allerdings in kleineren Auflagen. Diese
Art von Literatur wird regelmäßig im Verlag „Swenja“ der Gesellschaft „Me-
morial“ (Moskau) und auch im Verlag „Woswraschtschenie“ (Moskau) veröf-
fentlicht, Lagererinnerungen erscheinen auch in Provinzverlagen. In dieser
Zeit wird auch die Veröffentlichung von Erinnerungen möglich, die früher von
der liberal-demokratischen Öffentlichkeit negativ aufgenommen worden wä-
ren. So zum Beispiel die sehr offenen Erinnerungen einer Ehefrau eines pro-
minenten Tschekisten, der an sehr vielen Repressionen mitschuldig war und
dann selbst erschossen wurde.10
Schließlich entsteht auch eine neue Art von Erinnerungen: die Kinder der Sta-
linopfer erinnern sich an ihre Eltern, wobei diese Erinnerungen durch Doku-
mente (z. B. aus den Untersuchungsakten) ergänzt und kommentiert werden.11
2.5. Charakteristik der Erinnerungen: soziale, politische, geschlechtsspezifi-
sche und altersbedingte Besonderheiten
Die Mehrzahl der Autoren der GULAG-Erinnerungen stammen aus ähnlichen
sozialen Milieus. Es gibt verhältnismäßig wenige Texte von Personen, die zum
Beispiel zum Adel oder zur vorrevolutionären Kulturelite gehörten (z. B. Oleg
Wolkow, Tatjana Aksakowa, Dmitrij Lichatschew, Nikolai Anziferow). Einer
der Gründe dafür dürfte die Tatsache sein, daß viele aus diesem Kreis noch
während des Bürgerkriegs in die Emigration gingen. Es gibt auch nur ganz
- Mira Jakowenko: Agnessa. Moskwa1997.
- L.K.Tankajewa: Doiti do samoj suti. Moskwa 1997. Im Buch wird die Geschichte des Vaters der Autorin erzählt, auch seine Prozeßakte wird kommentiert.