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Prof. Dr. Hermann Weber: In 40 Minuten – so viel ist mir zugestanden –
will ich versuchen, einen Überblick zu geben oder genauer gesagt, den Stand
der Forschung darzustellen. Das habe ich mir so vorgestellt, daß ich in ge-
wohnter Weise akzentuiert, aber doch nicht nur über den Forschungsstand im
engen Sinne hier berichte – nämlich was gibt es gegenwärtig, welche Deside-
rata haben wir und ähnliches mehr – sondern daß ich versuchen will, das The-
ma weiter zu fassen. Ich werde die Rahmenbedingungen der Forschung ebenso
einbeziehen wie einige Probleme. Ich möchte das in sechs Schritten tun.
Mein erster Punkt ist „der Forschungsstand bis 1990“, der zweite Punkt „der
Zugang zu den Archiven“, der dritte „grundsätzliche Auseinandersetzungen
zur DDR-Geschichte und die Rolle der Wissenschaft“, der vierte „der quanti-
tative Umfang der Forschungen seit 1990“, der fünfte „Forschungsfelder und
Inhalte“ und der Schlußpunkt heißt „Desiderata und Perspektiven der For-
schung“.
Mein Ausgangspunkt ist die These: Eine der Voraussetzungen für die dringend
notwendige politische Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist die wissenschaft-
liche Erforschung, denn Wissenschaft und ihre Analysen können beitragen zur
Versachlichung. Sie können gegen Legendenbildung angehen. Eine Auseinan-
dersetzung mit der Geschichte erfordert fundiertes Wissen, soll die Aufarbei-
tung nicht ins Emotionale abgleiten oder gar zum politischen Instrument ver-
kommen.
Solche Gefahr besteht aber, wenn die Geschichte nicht von der Wissenschaft
erforscht wird. Wissenschaft ist öffentlich, ihre Ergebnisse müssen transparent
und nachprüfbar sein. Wissenschaft kann erklären, welche Fakten offenzule-
gen sind. Kenntnislücken müssen geschlossen, Strukturen analysiert, aber auch
Verantwortlichkeiten benannt werden. Ebenso sind Ursachen und Folgen der
SED-Diktatur zu untersuchen.
Vorab möchte ich hier sagen, daß – gemessen am Stand der Aufarbeitung der
nationalsozialistischen Diktatur – sieben Jahre nach dem Ende der zweiten
deutschen Diktatur wir sehr viel weiter sind als damals die wissenschaftliche
Aufarbeitung gekommen war. Damals gab es eigentlich nur das gerade ge-
gründete Institut für Zeitgeschichte in München, das sich damit befaßte. In den
Universitäten hat man sich kaum damit beschäftigt. Wir sind hier heute weiter,
vielleicht auch durch die Aktivitäten der Enquete-Kommission.
Ich komme zu meinem ersten Punkt: Der Forschungsstand bis 1990
Wenn sieben Jahre nach der Einheit und acht Jahre nach dem Ende der SED-
Diktatur der Forschungsstand insgesamt gesehen gut vorangekommen ist, so
aus zwei Gründen. Erstens: Es gab bereits vor 1990 wichtige und vielfältige
Untersuchungen zur DDR. Und zweitens: Seit 1990 ist erstmals Einsicht in die
geheimen schriftlichen Hinterlassenschaften in deren Archive möglich. Aller-
dings ist zu registrieren, daß die zahlreichen, die quantitativ meisten Untersu-
chungen der DDR-Historiker zu ihrer eigenen Geschichte bis 1990 nur in Aus-
nahmefällen heute wegen ihrer Materialfülle Bestand haben, der Großteil der
Arbeiten ist Makulatur. Dies hängt zusammen mit dem Auftrag, den die DDR-
Geschichtswissenschaft vom SED-Regime erhalten hatte, nämlich ihm histori-
sche Legitimität zu verschaffen. Sie hatten das zentrale Axiom der stalinisti-
schen Ideologie, die „Partei“ habe „immer recht“, historisch zu untermauern.
Diese Politisierung, die „Parteilichkeit“ hat die DDR-Geschichte zur rückpro-
jizierten Gegenwart degradiert. Sie hatte nicht zu beschreiben, wie Geschichte
wirklich verlaufen war, sondern wie sie nach der gerade gültigen Parteilinie
hätte verlaufen sollen.
Zwecks Rechtfertigung der Generallinie der Parteispitze mußte Geschichte da-
her auch ständig umgeschrieben werden. Damit bewahrheitete sich das be-
kannte Bonmot: „Was ist im Kommunismus am schwersten vorauszusagen? –
Die Vergangenheit.“ Das heißt also, die Geschichtsschreibung war ständig im
Fluß. Es fehlte Unabhängigkeit und es fehlte Pluralismus der Geschichts-
schreibung. Ich darf Sie daran erinnern, daß lange Zeit selbst Bildfälschungen
gang und gäbe waren, daß selbst auf Bildern vom Gründungsparteitag der SED
Köpfe von Leuten herausgeschnitten wurden, weil diese nicht mehr in die Li-
nie paßten. Wenn das nicht ging, wie im Falle Robert Bialek – ich darf Sie
verweisen auf die jüngste Beilage zum „Parlament“, die gerade über ihn be-
richtet hat –, dann malte man eben eine Perücke an und einen Schnurrbart, um
ihn unkenntlich zu machen. Wenn dies also eine Phase von DDR-Geschichts-
schreibung war, in der sehr viele DDR-Historiker sozialisiert worden sind,
kann man sich ja vorstellen, was letztlich zu erwarten war.
Wegen der Parteilichkeit der DDR-Geschichtsschreibung waren die westdeut-
schen Historiker gezwungen, sich – gewissermaßen in Stellvertreterfunktion –
mit der DDR-Geschichte zu befassen. Dabei standen sie vor zwei erheblichen
Schwierigkeiten. Erstens: Nur in Ausnahmefällen hatten sie Zugang zu Quel-
len. Und zweitens: Leider waren es zu wenige Zeithistoriker, die sich dieser
Thematik angenommen haben.
Dennoch ist festzuhalten, daß bis in die 80er Jahre wesentliche Bereiche, Etap-
pen und Probleme der DDR-Geschichte, vor allem aber die Frühphase der
SBZ/DDR, sowohl in Gesamtdarstellungen als auch in Monographien analy-
siert worden sind. Allerdings waren Methoden wie Wertungen wegen des Plu-
ralismus der westlichen Zeitgeschichtsforschung durchaus verschieden. Ohne
Zugang zu den Archiven sind gültige Aussagen publiziert worden, beispiels-
weise über die Etappen der SED-Diktatur, Kontinuität und Wandel, Herr-
schaftsstrukturen und Mechanismen (Ideologie, Terror, Neutralisierung). Zu
vielen Feldern der Politik, zum Parteiensystem Wirtschaft, Kultur, Wissen-
schaft und Verfolgung liegen Veröffentlichungen vor, die auch heute Bestand
haben.
Am Ende der DDR gab es einen teilweise unzureichenden, aber doch respek-
tablen Forschungsstand. Es brauchte das Rad nicht neu erfunden zu werden,
obwohl das viele dachten und manche sogar heute noch glauben.