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Wahlperiode 13, Band VII, Seiten 912 und 913
912
Protokoll der 49. Sitzung

Durchschnittsbürger ratlos; er weiß nicht mehr, was er verteidigen und was er
verdammen soll. Nach 1989 erwarteten viele voller Idealismus, daß die Histori-
ker nun ihre Schubladen aufzögen und fertige Arbeiten vorlegten, die zu einer
Veränderung des historischen Bewußtseins der Völker führen könnten. Tatsäch-
lich aber erwies sich, daß Publizisten aus der Emigration auf dem Markt der
Veröffentlichungen dominierten. Zwar gab es in weiten Kreisen ein Bedürfnis
nach Wahrheit, aber es gab eben auch Sensationslust. In der privatisierten Kol-
lektiverinnerung sind die Normen patriotischer Bilder verbindlich, denn das hi-
storische Bewußtsein muß sich nicht immer mit den historischen Erkenntnissen
decken. Es ist schon erstaunlich, wie gering sich die Auseinandersetzung mit
dem Wesen des Kommunismus entwickelt hat. Statt dessen gelten einfache und
oberflächliche Wahrheiten als verbindlich, und der Kommunismus bleibt nach
wie vor das große Rätsel unseres Jahrhunderts.

Das historische Gerechtigkeitsgefühl deckt sich nicht mit der Praxis des Rechts-
staates. In jeder Gesellschaft, die mit der kommunistischen Unfreiheit Bekannt-
schaft gemacht hat, besteht nämlich ein allgemeines Bedürfnis nach moralischer
Eindeutigkeit, nach einer eindeutigen Erklärung der Welt. Der Zusammenprall
von Demokratie und Kommunismus wird schlicht manichäisch als der Kampf
des Guten gegen das Böse gedeutet. Der Alltag des Rechtsstaates aber verlangt
nach anderen Prinzipien. Er kann den Menschen weder ihre verlorene Würde zu-
rückgeben noch sie materiell entschädigen.

Die Grundlagen der Entkommunisierung stehen in einem inneren Widerspruch
zueinander. Demokratie heißt, daß die Bürger bei der Gestaltung der neuen Ord-
nung mitwirken und Verantwortung übernehmen. Aber die Entkommunisierung
bedeutet den Ausschluß ganzer gesellschaftlicher Gruppen, die durch ihre Zu-
sammenarbeit mit dem alten Regime belastet sind. Damit können die Abgesetz-
ten und Besiegten nicht zu vollwertigen Bürgern werden. Die Demokratie ver-
langt ein Mindestmaß von Würde, die Kunst des Kompromisses und die Bereit-
schaft zum Dialog – aber die Entkommunisierung schafft neue Teilungen und
Konflikte. Deswegen ist es eine der Grundaufgaben der neuen Demokratie, Lö-
sungen zu finden, die eine Integration der Gesellschaft im Einklang mit den ele-
mentaren Verpflichtungen gegenüber den Opfern des alten Regimes und der ei-
genen Vergangenheit ermöglichen.

Man sollte erwarten, daß die Völker Mittelosteuropas Schritt für Schritt zu einer
neuen demokratischen Wirklichkeit übergehen. In dieser werden nicht nur die
Kenntnisse der vergangenen Epoche zählen, sondern auch deren Anwendbarkeit.
Die Kenntnisse von den beiden Diktaturen, die Europa im 20. Jahrhundert erlebt
hat, werden immer umfangreicher. Die Wirklichkeit des ablaufenden Jahrhun-
derts aber zeigt, daß diese Kenntnisse immer weniger bedeuten. Zwar ist in der
Welt der Wissenschaft das Interesse an der Problematik des Totalitarismus be-
achtlich, doch stellen wir uns selten die Frage, worin denn die Konsequenzen für
das Verhalten und das Bewußtsein des einzelnen und der Gesellschaft bestehen.
So wie aus der Kenntnis des Holocaust Verpflichtungen für politische Entschei-

913
Vergangenheitsaufarbeitung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa

dungen erwachsen, so müssen auch aus der Kenntnis des Kommunismus kon-
krete Folgerungen für die Demokratie gezogen werden.

Hierin liegt vor allem eine Verpflichtung für die nachfolgenden Generationen.
Denn die neue Generation, die jetzt heranwächst, ist in keine Kompromisse ver-
strickt. Sie sieht sich versucht, die kommunistische Vergangenheit völlig neu zu
bewerten. Was können wir ihr an die Hand geben? Wichtig ist, daß wir uns der
Tatsache bewußt sind, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit eine Aufgabe
mit vielfältigen Facetten ist und in einem tiefreichenden politisch-sozialen Zu-
sammenhang steht. So sollten wir die junge Generation zum Nachdenken dar-
über anregen, daß der Totalitarismus vor allem die beunruhigende Erfahrung
enthält, wozu der Mensch alles fähig ist. Was alles kann aus uns werden? Hier
liegt die Erkenntnis, daß es für den Menschen unbegrenzte Möglichkeiten gibt,
sich wechselnden Bedingungen anzupassen. Wenn man bedenkt, daß seit dem
Ende des Dritten Reiches, das nur zwölf Jahre bestanden hat, schon mehr als ein
halbes Jahrhundert vergangen ist, ohne daß es uns schon gelungen wäre, mit al-
len Problemen, die der Nazismus mit sich gebracht hat, fertig zu werden, drängt
sich die Frage auf, wieviel Zeit wir wohl noch benötigen werden, um zu verste-
hen, was der eigentliche Geist der Epoche gewesen ist, die unser Leben ausge-
füllt hat und was unser Anteil daran gewesen ist. Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Vorsitzender Rainer Eppelmann: Auch Ihnen, verehrte Frau Professor, unser
herzlichstes Dankeschön. Es hat bisher vier unter uns gegeben, die das Privileg
hatten, nicht nur zuhören zu dürfen, sondern auch reden zu können. Das wird in
den nächsten 60 Minuten anders sein. Jetzt dürfen sich auch eine ganze Reihe
von anderen zu dieser Fragestellung äußern, die die beiden, die bisher dazu refe-
riert haben, eindeutig mit Ja beantwortet haben. Sie können Ihre Meinung dazu
äußern, Nachfragen an die beiden Referenten stellen oder auch mit kurzen Be-
richten belegen, warum Sie ja oder nein zu dieser Fragestellung sagen würden.
Wir haben erste Wortmeldungen. Die erste ist von Professor Weber, bitte schön.

Sv. Prof. Dr. Hermann Weber: Wir können sicher alle den Referenten – dabei
möchte ich auch die beiden Einführungsreferate einbeziehen – dankbar sein, daß
sie die klare Antwort gegeben haben, daß nicht Verdrängung, sondern Aufar-
beitung eine Voraussetzung für den Ausbau der Demokratie ist, und bereits eine
ganze Reihe von konkreten Beispielen gebracht haben, warum dies notwendig
ist. Wir werden ja noch über justitielle und politische Aufarbeitung in der Dis-
kussion zu sprechen haben.

Ich möchte daher nur ein einziges Problem ansprechen, das mich insbesondere
deswegen bewegt, weil Frau Wolff-Poweska in ihrem Schlußwort ganz kurz
darauf eingegangen ist, es aber ansonsten nicht behandelt wurde. Es handelt sich
um die Frage: Welche Rolle kann bei dieser notwendigen Aufarbeitung die Wis-
senschaft spielen? Es ist klar, daß Wissenschaft auf der einen Seite bedeutet, bei
dieser Aufarbeitung von Emotionalisierung und von Instrumentalisierung weg-
zukommen. Herr Gruša hat ja in seinem sehr beachtlichen und bedenkenswerten