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Wahlperiode 12, Band III/1, Seiten 32 und 33
32
Protokoll der 28. Sitzung

Dr. Christian Gneuss: „Ich bin auch der Meinung, daß die Formel vom
vergewaltigten Marx nicht ausreicht. Auch schon beim jungen Marx waren
Ansätze zum Totalitarismus...“

Stammer: „Auch ich glaube, daß wir am Marx-Bild selber und an der Marx-
Lehre und -Ideologie etwas zu korrigieren haben.“73

Die vorstehende Untersuchung hat, wie ich meine, die Richtigkeit dieser
Annahme mehr als bestätigt. Alle wesentlichen Merkmale des Totalitarismus
werden von seinem Postulat einer Diktatur des Proletariats erfüllt.

Wie ist es möglich, daß Marx von so vielen in diesem Punkt bis heute
verkannt wird? Die einen wollen die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen, weil
ihnen Marx von Jugend an als verehrungswürdig nahegebracht wurde. Die
anderen schreiben und sprechen über Marx ohne intensives Quellenstudium.
Anfang November hielt ich in Bayreuth ein Referat über „Marx und
der Terrorismus – War die Begünstigung der terroristischen Roten Armee
Fraktion durch die DDR ideologisch zu begründen?“ In der auf das Referat
folgenden Diskussion machte mir ein junger Privatdozent, G. H., Bonn,
unter dem Beifall von schätzungsweise einem Drittel der Zuhörer, den
Vorwurf, meine Beweisführung sei einseitig und es gäbe auch gegenteilige
Marxinterpretationen.

Nun, der Hörer konnte selbst beurteilen, ob ich Marx und Engels interpretiert
oder nicht vielmehr – ohne nennenswerte Interpretation – schlicht beim Wort
genommen hatte.

Daß G. H. die behauptete Einseitigkeit nicht aus dem Stegreif belegen konnte,
ist selbstverständlich. Also bat ich ihn, dies schriftlich nachzuholen. Dazu
erklärte er sich bereit. Doch der Absicht sind bis heute keine entsprechenden
Taten gefolgt, obgleich ich nochmals schriftlich darauf hinwies, daß mein Text
veröffentlicht werden wird und ich seine Kritik berücksichtigen möchte.

Dieses Verhalten überrascht nicht, entspricht vielmehr einschlägigen Erfah-
rungen. Bereits 1980 habe ich den engen Konnex zwischen Marx und Terror
anhand von Zitaten aufgezeigt. Damals kündigte ein Hamburger Kollege, U.
B., an, er werde allen Teilnehmern der Veranstaltung schriftlich das Gegenteil
nachweisen. Trotz Reklamation steht dieser Nachweis immer noch aus. Ganz
offenbar sind viele ebenso unwillig, die Marx und den Marxismus belastenden
Fakten zu akzeptieren, wie sie unwillig waren, die DDR-Wirklichkeit der Jahre
1949–1989 zur Kenntnis zu nehmen.

Vorsitzender Rainer Eppelmann: Herzlichen Dank, Herr Professor Löw.
Ich habe den Eindruck, wir werden um die Mittagszeit eine sehr interessante,
möglicherweise auch kontroverse, Diskussion haben. Ich möchte Sie herzlich
bitten, daß wir dann auch erst anfangen miteinander zu diskutieren. Jetzt

 

  1. Kassette 01702 „Archiv der sozialen Demokratie“.
33
Marxismus-Leninismus und soziale Umgestaltung

haben wir Gelegenheit, über das Gehörte noch einmal kurz nachzudenken.
Ein kleines Stück Vivaldi bitte.

(Musik, Musik, Musik. . .)

Als nächstes kündige ich an und bitte, das Wort zu ergreifen: Herrn Professor
Wolfgang Leonhard.

Prof. Wolfgang Leonhard: Marxismus-Leninismus und die Umgestaltung
in der SBZ/DDR

Im Mittelpunkt meines Interesses stehen folgende Fragenkomplexe: Seit wann
gibt es „Marxismus-Leninismus“? Wie wurde er verspätet 1949 in der damali-
gen Sowjetzone eingeführt? Wie hat sich die Marxismus-Leninismus-Schulung
in der DDR entwickelt? Was war die Funktion des Marxismus-Leninismus?
Welches waren seine Stärken und Schwächen? Ist der Marxismus-Leninismus
bereits total zusammengebrochen – oder vielleicht nicht ganz?

Sowjetunion 1938: Plötzlich „Marxismus-Leninismus“

Am 14. November 1938 – ich war damals ein siebzehnjähriger Schüler in
Moskau – veröffentlichten alle Zeitungen der Sowjetunion eine Resolution des
Zentralkomitees der KPdSU. Thema: Einführung des Marxismus-Leninismus.
In dieser Resolution wurde erklärt: es sei falsch, den Marxismus vom
Leninismus zu trennen. Dies sei nicht mehr gestattet. Marxismus und
Leninismus seien eine untrennbare Einheit.Von nun an erfolge die gesamte
Schulung nach dem sechs Wochen zuvor veröffentlichten „Kurzen Lehrgang
der Geschichte der KPdSU“. In dieser Resolution, die, nach der Diktion zu
urteilen, offensichtlich von Stalin selbst formuliert worden ist, wurde ferner
erklärt:

Der Marxismus-Leninismus bestehe aus vier Hauptbestandteilen: Philosophie
(dialektischer Materialismus), Geschichtsbetrachtung (historischer Materialis-
mus), Wirtschaftslehre (marxistische politische Ökonomie) und den politischen
Konzeptionen – für die es zunächst noch keine Bezeichnung gab. Erst 1962
wurde dafür der Name „Wissenschaftlicher Kommunismus“ eingeführt.

Wenige Tage nach jenem 14. November 1938 gab es in allen Fachschulen,
Fachhochschulen, Hochschulen und Universitäten der Sowjetunion plötzlich
das neue Fach „Marxismus-Leninismus“. Alle früheren ideologischen Fächer
wurden durch den neuen offiziellen Begriff „Marxismus-Leninismus“ ersetzt.
Nun warteten wir alle, daß die Lehrbücher erscheinen würden – für den
dialektischen und historischen Materialismus, für die marxistische Politische
Ökonomie und für die politischen Konzeptionen. Aber sie erschienen nicht.
In den Hochschulen mußten wir damals (1940) nach Lehrplänen arbeiten, da
es gedruckte Lehrbücher noch nicht gab. Es ist anzunehmen, daß Stalin deren
Erscheinen hinauszögerte, um nicht durch eine zu fest gefügte detaillierte Ideo-
logie an der eigenen Handlungsfreiheit gehindert zu sein. Die entsprechenden