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Wir haben unter den Erfahrungsberichten hier einige Partner aus der Wirt-
schaft, denen wir für ihre Teilnahme danken. Vorgesehen ist, daß die einzelnen
mit ihren persönlichen Berichten beginnen und wir dann in der Diskussion die
Möglichkeit haben, vertiefend oder grundsätzlich zu fragen. In diesem Sinne
schlage ich vor, daß Herr Fischer, den ich als ersten herzlich begrüßen möchte,
beginnt und uns seinen Erfahrungsbericht liefert.
Martin Fischer: Ich bin ein Handwerksmeister aus der ehemaligen DDR,
noch dazu ein selbständiger, der so alt ist wie seine Republik war. Ich hatte in
meinem 20-jährigen Betriebsüberlebenstraining mehr Schwejk sein müssen als
Handwerker.
Als 10-jähriger war das erste Treffen mit zwei Herren im schwarzen Leder-
mantel, und einen an Kreislaufschwäche in der Backstube liegender Vater.
Nach dem Spießrutenlauf als einziger männlicher Konfirmand in einem christ-
lichen Quartett, wurde mir der Besuch der Oberschule verweigert, da nur die
Besten für die sozialistische Landwirtschaft und nicht für das Handwerk zum
Abitur delegiert wurden.
Nach dem Abitur an der Abendschule natürlich, auf dem zweiten Bildungsweg
und dem zeitgleich abgelegtem Facharbeiterbrief mit Fachschulreife weder ein
Studium an der TU-Dresden noch ein Fachschulstudium an der Fachschule für
Back- und Süßwarentechnik in Dippoldiswalde „frei war“ – 18 Monate NVA-
Wehrdienst.
Als Stammpersonal in einem Unteroffizierausbildungsregiment, zuständig als
Stabsfahrer, Stiefelauszieher für seinen Regimentskommandeur, Benzinab-
rechner für russische Fahrzeuge, Kellner im Offizierskasino, aber auch intensi-
ver Leser des eigenen Wehrstammbuches, als ordentlicher Gefreiter entlassen,
und trotzdem kein Studienplatz „frei“.
Mitglied einer Partei geworden, zu deren Gründungsmitglied in Sachsen-An-
halt der Onkel zählte, durch den ich nach einem Urteilsspruch von 25 Jahren
Bautzen den sozialistischen Staatsfrust zu spüren bekam und gerade deshalb
unmusikalische Blockflöte wurde. Vorsitzender einer Ortsgruppe, die zahlen-
mäßig die mächtigste Partei im Heimatort war, obwohl meine Vorgänger in
dieser Partei Familienbetriebe enteignet und sie selbst kriminalisiert wurden.
Den seit 1870 in Förderstedt bestehenden Handwerksbetrieb zweimal vor einer
Sozialisierung (PGH) gerettet, aber auch unter aktiver Mithilfe der örtlichen
und kreislichen CDU-Freunde, aber auch wegen meiner dreisten Art im Um-
gang mit staatlichen Stellen.
Der 1. Versuch: Die letzten privaten Industriebetriebe wurden in den 70er Jah-
ren enteignet, für den Kreis Staßfurt sollte außerdem eine Bäcker-PGH ge-
gründet werden. Mit mir wurde persönlich gesprochen. Dem Kreisvorsitzen-
den der CDU, auch ein Bäckermeister, teilte ich die Existenz von Dokumenten
mit, die den 1. Stellvertreter des Rates des Kreises Staßfurt und Vorsitzender
der Abt. Inneres schwer belasteten und deren Herausgabe die Stasi 1956
schlagkräftig von meinem Vater erhalten wollte. Der verdiente Genosse war
Bäckerlehrling im elterlichen Betrieb, aber auch Gestapospitzel. Mit dem 1.
Versuch sind wir glimpflich davongekommen.
2. Versuch: Die Versorgungssituation mit Backwaren spitzte sich ab 1978/79
in unserem Kreis weiter zu. Wieder sollte ein leistungsstarker Backbetrieb auf-
gebaut werden – eine PGH wäre die kostengünstigste Variante gewesen. Der
Staat sparte, gerade was Backwaren anbelangte, an Investitionen. Die Preise
sind Ihnen ja noch bekannt. Mein Grundstück und meine Ausbildung waren
für die damalige Leiterin der Abt. ÖVW des Rates des Kreises Staßfurt, eine
gelernte Traktoristin, die Lösung. Aber mit Überreichung meines Personal-
ausweises der DDR unter Hinweis auf die neuen Regelungen zur Familienzu-
sammenführung DDR-BRD, meine Frau und meine mit ihr „gezeugten Nicht-
staatsbürger der DDR“, sie befanden sich z.Zt. nicht unter staatlichem Zugriff,
schlug auch dieser Versuch fehl.
Für diese Frechheiten bezahlte ich dann bis 1989, da erhielt ich meine erste
„besuchsweise Ausreise in die BRD“, zum 75. Geburtstag des Onkels, der
nach seiner Haftentlassung aus der gelben Hölle in Freiburg/im Breisgau lebt.
Genehmigt mit Auflagen: Der Betrieb durfte nicht geschlossen werden, die
Aufenthaltsgenehmigung meiner Frau wurde zwecks „Überarbeitung“ einge-
zogen – trotzdem Fahrt mit dem noch minderjährigen Sohn, der als Bürger der
Republik Polen Reisefreiheit für alle Länder besaß, und auch in meinem Per-
sonalausweis verzeichnet war. Der Zug hatte zwei Stunden Verspätung, aber
wir durften reisen.
Als ständiger Nutzer eines Telefons „Variant II“ mußte ich zwangsläufig Ge-
hörschäden davontragen und nicht auf alles hören was der Staat, bzw. die Par-
tei sagte.
Wie ich eingangs schon sagte, man mußte mehr Schwejk sein als Handwerker.
Die sieben mageren Jahre nach der Einheit neigen sich wohl auch dem Ende
entgegen – jetzt müssen die fetten Jahre folgen, das zweite deutsche Wirt-
schaftswunder muß durchstarten, sozialer Unfrieden zieht auf.
Die ewig Gestrigen liegen immer noch bzw. schon wieder auf der Lauer. Der
braune wie auch der rote Faschismus waren für das deutsche Handwerk in un-
serer Region eine 57-jährige Geisel, und für einen Handwerksbetrieb, der seit
1870 besteht, ein ständiges Wechselbad der Gefühle.
Die gesamtdeutsche Demokratie, getragen von CDU/CSU, F.D.P., SPD und
den Grünen, steht in der nationalen Pflicht, der Wirtschaft in den neuen Län-
dern Rahmenbedigungen zu schaffen, die unsere Fachverbände seit der Stunde
Null fordern. Jedes ihrer parteipolitischen Scharmützel im Bundestag dient lei-
der nur ihrer Selbstdarstellung, aber nicht der Gesundung der Wirtschaft. Be-
sonders trifft es die, die mit ihren Arbeitsplätzen nicht ins Ausland abwandern
können.