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das ärgerte immer wieder, machte Panik, aber es fehlte die Erfahrung, ohne
Mangel zu leben. Wir wollen die DDR nicht wiederhaben, aber wir lassen sie
uns auch nicht nehmen. Da muß also doch etwas im Alltag in der DDR zwi-
schen Selbstbehauptung und Anpassung gewesen sein, nicht nur ein Balance-
akt, nicht nur eine Nische, sondern da sind Dinge mit uns verwachsen, Teil ei-
ner Biographie geworden, die man um so ruhiger betrachten kann, um so grö-
ßer, und das heißt sicherer die Distanz geworden ist. Aber die Sicherheit der
gewachsenen Distanz ist hilfreich, weil man immer diese Differenz mitleben
muß, will man sich nicht als Ostalgiker selber unfähig machen, hier zu leben.
Wir lassen es uns nicht nehmen, denn da ist ein Stück Versuch, Anerkennung
zu erreichen, daß das Gewesene auffälliger, sozusagen um Anerkennung hei-
schend, drapiert wird, als es eigentlich sinnvoll oder notwendig wäre. Für den
Betrachter von außen manchmal vielleicht eher etwas peinlich, ist das für die
Selbst- und die Binnenkommunikation außerordentlich wichtig.
Ich will aus der Erinnerung zwei Formen von Mangel kurz nennen, die mir mit
der gewachsenen Distanz besonders wichtig erscheinen, und die ich sozusagen
pars pro toto und paradigmatisch nennen möchte. Es sind auch zwei wesentli-
che Gründe, weshalb ich schon damals Schwierigkeiten hatte, bei der Rück-
kehr von den kurzen Reisen, und heute deshalb nicht mehr zurück könnte. Das
Erste ist der Mangel an Ästhetik und Schönheit, die allgegenwärtige Abwesen-
heit von einem auch nur halbwegs anspruchsvollen Design. Der schlechte Ge-
schmack der Arbeiterführer durchzog alles oder berührte alles wie ein übler
Geruch. Es war sozusagen ein stehengebliebenes Bewußtsein für Formen und
Farben, das, selbst wenn es abgeschüttelt werden sollte, als das Negativ zum
gezeigten Positiv für den Kundigen immer wieder zu erkennen war. Dadurch
hatte vieles etwas abgestandenes. Eine Erinnerung: Ich zeigte 1987 mit einem
abwertenden, fast vorwurfsvollen Unterton einem Freund aus Italien die DDR.
Und um so ärgerlicher ich war und wurde, um so wohler fühlte er sich: Das
erinnert mich alles an meine Kindheit, sagte er. Der gute Mensch war fünfzig
Jahre alt und mir wurde schlagartig deutlich, wo wir stehengeblieben waren
oder daß wir zumindest nur mit großer Zeitverzögerung vorwärtsgekommen
waren. Das hat heute auch sein Gutes, der Mangel an Entwicklung hat eine
nicht überschaubare Menge an Denkmalen erhalten, und riesige Flächen, die
heute unter Naturschutz stehen, entstehen lassen. Das Zweite ist der Mangel an
Geschwindigkeit. Kam ich damals von Besuchen zurück, mußte ich mein Le-
ben sozusagen über Nacht entschleunigen. Nicht nur, daß vieles langsamer und
gemächlicher ging, zugleich mußte auch anderes in absurder Hast und Hektik
passieren. Man kam letztlich irgendwie nicht voran. Der Mangel an Öffent-
lichkeit beförderte das in die Gesellschaft – eine dauerhafte Inszenierung, die
für uns stattfand. Wer seine Rolle nicht dankbar annehmen wollte, mußte sich
verstellen. An Künstlern des Verstellens gab es keinen Mangel. In der Man-
gelgesellschaft interessierte mehr, was du bist, als was du hast.
Zunächst wird Mangel ja immer als das Fehlen einer dringend benötigten Sa-
che oder einer Person beschrieben. Aber auch ein Mangel an Fein- oder Takt-
gefühl und ein fühlbarer Mangel an Arbeitskräften oder an Ausdauer und Ent-
schlossenheit wird in dem einschlägigen DDR-Wörterbuch angeführt. An den
Mangel an Arbeitsplätzen ist dort nicht gedacht, aber an Mängel, die es auf
dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft noch zu überwinden gelte. Zweitens,
so belehrt dieses Wörterbuch aus der DDR weiter, kann Mangel auch als Syn-
onym für Fehler stehen. An einer Ware kleine Mängel feststellen. Charakterli-
che Mängel hier und da beheben. Darüber hinaus gibt es in diesem Wörterbuch
einen weiteren Hinweis auf die politische Bedeutung von Mangel, und zwar
die Mangel, ein Gerät zum Glätten der Wäsche zwischen zwei gegenläufigen
Walzen. Jemanden in die Mangel nehmen, durch die Mangel drehen. Die heute
Anzuhörenden werden diese Mangel, denke ich, nicht fürchten müssen, wenn
sie die Zurückhaltung ablegen.
Ich hoffe, daß diese Anhörung über Erfahrung und Bewältigungsstrategien in
der Mangelgesellschaft auch dazu beitragen kann, politische Fragen an die
Überflußgesellschaft zu stellen. Angesichts der lang anhaltenden Diskussion
um Schulden, um Renten und Steuerreform habe ich den Eindruck gewonnen,
daß wir uns zunehmend mit Strategien am Ende der Planungssicherheit für den
Staat und persönliche Lebensläufe befassen müssen. Mangel ist auch ein
wichtiges Anzeichen für notwendige Veränderungen. Nicht als Aufforderung
zur Beseitigung des Mangels, sondern manchmal eben auch als Zeichen, daß
Strukturen verändert werden müssen, daß Institutionen im Wandel begriffen
sind. Viele würden vermutlich bei diesem Thema in der Gefahr stehen, sich
von einem investigativen, voyeuristischen oder denunziatorischen Blick leiten
zu lassen. Mich interessiert dieses Thema wieder neu, weil ich mich frage:
Was können wir brauchen, aus der Mangelgesellschaft von einst, für die Man-
gelgesellschaft von morgen. Vielen Dank.
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Herr Minister, herzlichen Dank, daß Sie
uns besucht und daß Sie zu uns geredet haben. Ich hoffe, Sie haben ein wenig
Zeit, um festzustellen, ob das eine oder andere, was Sie an Erwartungen, Hoff-
nungen oder Fragen geäußert haben, sich hier wiederfinden wird. Uns allen
aber ist, glaube ich, deutlich geworden, schon aus den drei ersten, kurzen
Grußworten, daß das, was ich Ihnen prophezeit habe, Wirklichkeit sein wird:
daß wir hier sehr unterschiedlicher Meinung sind, und Dinge, weil wir sie un-
terschiedlich erfahren haben, verständlicherweise auch unterschiedlich erzäh-
len und bewerten. Nun aber, wie schon angekündigt, der Vortrag von Herrn
Professor Faulenbach. Ich bitte Sie noch einmal um Entschuldigung dafür, das
Sie mit dem Risiko leben mußten, kurz unterbrochen zu werden. Bitte Herr
Professor Faulenbach.
Prof. Dr. Bernd Faulenbach: Meine Damen und Herren, wir wollen hier über
Aspekte des Alltagslebens der großen Mehrheit der Bevölkerung der DDR
sprechen, weil es uns vor allem um die Prägungen geht, die heute im vereinig-
ten Deutschland noch nachwirken.
Ich möchte einleitend unseren Fragerahmen abstecken, indem ich – jeweils
sehr knapp – die Begriffe „Alltag“ und „Diktatur“ skizziere, nach Interpreta-
tionen des Alltags in der Diktatur frage, Dimensionen und Probleme des All-