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Wahlperiode 13, Band VI, Seiten 802 und 803
 

Bernd Bonwetsch

Moskau und die SBZ 1945-1949. Archiverfahrungen bei
der Erforschung der sowjetischen Besatzungspolitik

 

Der Kenntnisstand bis zum Ende der Sowjetunion

Jahrzehntelang hatten wir uns damit abgefunden, daß niemand – weder sowje-
tische noch ausländische Historiker – in Moskau Zugang zu zeitgeschichtlich
bedeutenden internen Dokumenten hatte. Aufzeichnungen wie die von Milo-
van Djilas über „Gespräche mit Stalin“, an denen dieser 1944-1948 teilge-
nommen hatte, waren gleichsam das äußerste an Kenntnis über Hintergründe
und Interna der „großen“ Politik der Sowjetunion aus der Stalin-Zeit. Im Hin-
blick auf die Moskauer Politik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutsch-
lands seit 1945 galt das gleiche für Berichte wie die von Wolfgang Leonhard,
Vladimir Rudolph (Rudol’f), Gregory Klimow (Grigorij Klimov) oder Erich
Gniffke.1 Alles, was wir von ihnen erfuhren, war allerdings mehr oder weniger
Zufälliges. Im Unterschied zu Djilas, der immerhin direkt mit Stalin zu tun
hatte, stützten sich die Aussagen dieser Gewährsleute für die sowjetische Poli-
tik in Deutschland im wesentlichen auf Aussagen Dritter bzw. auf Hörensagen,
auch wenn zumindest Leonhard und Gniffke Zugang zu Informationen hatten,
die nur für höhere KPD- bzw. SED-Funktionäre gedacht waren. Insbesondere
der Chef der im Oktober 1945 bei der SMAD eingerichteten Propagandaver-
waltung, der kahlköpfige Oberst Sergej Tjul’panov2, schien danach in der SBZ
die politisch wichtigste Rolle im Hinblick auf die Exekution und möglicher-
weise sogar Formulierung sowjetischer Politik gespielt zu haben. Erinnerun-
gen wie die der ehemaligen Ost-CDU-Politiker Ernst Lemmer und Johann
Baptist Gradl u. a. m. bestätigten diesen Eindruck.3

Die Memoiren sowjetischer Beteiligter, die seit den siebziger Jahren erschie-
nen, insbesondere die des Mitglieds des Militärrats der SMAD 1945-1946, Fe-
dor Bokov, des ehemaligen Chefs der SMA-Verwaltung für Thüringen, Gene-
ralmajor Ivan Kolesničenko, und Tjul’panovs selbst änderten an unserem lük-
kenhaften, unbefriedigenden Informationsstand so gut wie nichts, weil sie ei-

 

  1. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Frankfurt a. M. 1961; Vladimir Rudolph: The Agencies of Control: Their Organization and Policy, in: Robert Slusser (Hrsg.): Soviet Economic Policy in Postwar Germany, New York 1953, S. 18-36; Gregory Klimow: Berliner Kreml, Köln 1952; Erich Gniffke: Jahre mit Ulbricht, Köln 1966.
  2. In den zeitgenössischen deutschen Quellen in der Regel „Tulpanow“ geschrieben.
  3. Ernst Lemmer: Manches war doch anders. Erinnerungen eines deutschen Demokraten, Frankfurt a. M. 1968; Johann Baptist Gradl: Anfang unter dem Sowjetstern. Die CDU 1945-1948 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Köln 1981.
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Archiverfahrungen in Moskau

gentlich politische Fragen weitgehend ausklammerten.4 Erst die inneren Ver-
änderungen, die mit der Perestroika in der Sowjetunion einhergingen, machten
Hoffnung auf ein neues Herangehen der KPdSU an die Geschichte und die hi-
storischen Quellen. So geschah es auch: Vieles wurde plötzlich publiziert, was
bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre vollkommen geheim bzw. tabu ge-
wesen war. Die Geschichte wurde zwar nach altem Muster zu Legitimations-
zwecken instrumentalisiert und vorzugsweise als Waffe gegen – schwächere
oder unterlegene – politische Gegner eingesetzt, aber der Umgang mit ihr löste
sich doch zugleich von dieser bloßen Instrumentalisierung.5 Insbesondere
Memoiren und Biographien fanden großes Interesse. In bezug auf die sowjeti-
sche Besatzungspolitik in Deutschland erschienen die für die Reparations-
bzw. Demontagepolitik der Sowjetunion wichtigen Erinnerungen des Stellver-
treters des Obersten Chefs der SMAD für Wirtschaftsangelegenheiten 1945-
1949, Konstantin Koval’, die allerdings nur für die Zeit um das Kriegsende et-
was mitteilsamer sind.6 Ferner erschienen schließlich, und zwar bislang nur in
Deutschland, die Erinnerungen von Wladimir Semjonow (Vladimir Semenov),
1945-1953 Politischer Berater des Obersten Chefs der SMAD bzw. des Chefs
der Sowjetischen Kontroll-Kommission (SKK) und nachmaliger Hoher Kom-
missar in der DDR. Sie sind zweifellos der unter politischen Gesichtspunkten
interessanteste bisher veröffentlichte Bericht eines hochstehenden sowjeti-
schen Beteiligten und tragen weiter zu unserer Kenntnis der sowjetischen Po-
litik in Deutschland bzw. in der deutschen Frage bei, auch wenn sie keines-
wegs alles beantworten, was wir wissen möchten, und politisch Wichtiges in
erstaunlichem Maße ausklammern.7

Die Öffnung der DDR- bzw. SED-Archive nach der „Wende“ gab weitere Im-
pulse für die Erhellung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Allerdings zeigen
die veröffentlichten Dokumente, daß die Führung der KPD bzw. der SED über
die sowjetische Politik doch nur sehr unvollständig informiert wurde bzw. daß

 

  1. F. J. Bokow: Frühjahr des Sieges und der Befreiung, Berlin 1979; I. S. Kolesničenko: Bitva posle vojny [Die Schlacht nach dem Kriege], Moskau 1987 (kürzere, teilweise abweichende Fassung: Iwan Kolesnitschenko: Im gemeinsamen Kampf für das neue antifaschistisch-demokratische Deutschland entwickelte und festigte sich unsere unverbrüchliche Freundschaft, Erfurt 1985); S. I. Tjulpanow: Deutschland nach dem Kriege (1945-1949), Berlin 1986 (Tjul’panow hatte zuvor bereits seine Erinnerungen in Zeitschriftenbeiträgen veröffentlicht – in der DDR. In der Sowjetunion sind sie nur auszugsweise veröffentlicht worden: V pervye poslevoennye gody na nemeckom zemle [In den ersten Nachkriegsjahren auf deutschem Boden], in: Novaja i novejšaja istorija [1984], Nr. 2, S. 121-136; Nr. 4, S. 104-124).
  2. Zahlreiche Autoren haben sich mit der Rolle der Geschichte für die Perestroika befaßt, darunter auch der Verf. in mehreren Beiträgen. Vgl. als detailliertesten Überblick: Robert W. Davies: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991.
  3. K. I. Koval’: Na postu zamestitelja glavnonačal’stvujuščego SVAG 1945-1949 gg. [Auf dem Posten des Stellvertreters des Obersten Chefs der SMAD 1945-1949], in: Novaja i novejšaja istorija (1987), Nr. 3, S. 130-148; ders.: Zapiski upolnomočennogo GKO na territorii Germanii [Aufzeichnungen des Bevollmächtigten des Staatlichen Verteidigungskomitees auf dem Territorium Deutschlands], in: Ebenda (1994), H. 3, S. 124-147; ders.: Rabota v Germanii po zadaniju GKO [Die Arbeit in Deutschland im Auftrage des Staatlichen Verteidigungskomitees], in: Ebenda (1995), Nr. 2, S. 101- 114.
  4. W. S. Semjonow: Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939-1991, Berlin 1995.