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Wahlperiode 13, Band VII, Seiten 8 und 9
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Protokoll der 17. Sitzung

Die Situation von Aufarbeitungsinitiativen sechs Jahre nach der Wiederverei-
nigung – dazu gibt es sicher sehr, sehr unterschiedliche Meinungen, Einsichten
und Ansichten. Sie hören jetzt die von Michael Stognienko aus Berlin.

Michael Stognienko: Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin gebeten
worden, in die Situation von Aufarbeitungsinitiativen sechs Jahre nach der
Wiedervereinigung einzuführen. In einem Text des Lyrikers Johannes
Bobrowski aus Tilsit kommt ein Historiker vor, der auf die Straße rennt, weil
ein Windstoß seine Zettel vom Balkon geweht hat. Sie fliegen davon und er
rennt hinterher. Vielleicht ist die ganze litauische Geschichte in Gefahr, heißt
es ironisch, wenn er seine Papiere nicht wiederfindet. So beginnt eine Rezensi-
on über die Materialien der letzten Enquete-Kommission. Die hatte den Titel
„Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“.
Heute wollen wir mit dieser Kommission die Folgen der SED-Diktatur über-
winden. Warum dieses Zitat? Zum einen ist es eine Verbindung zur 14. Sit-
zung der Enquete-Kommission in Leipzig am 30. September 1992, in der die
Initiativen und Gruppen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte schon einmal
befragt wurden. Zum anderen möchte ich Sie in dieses Bild Bobrowskis einla-
den. Tauschen wir einen Historiker gegen eine dieser Initiativen aus, sonst
kann alles so bleiben. Sie sitzen auf einem Balkon, ihre Arbeit ist öffentlich
und jederzeit einsehbar. Auch der Windstoß paßt. Jeder Wetterumschlag, jede
Schwierigkeit – finanziell oder personell – gefährdet die Arbeit, bedroht das
Erreichte. Auf die Frage, ob das eventuelle Zugrundegehen der Initiativen die
deutsche Geschichte oder etwa die Tätigkeit der Initiativen selbst die Ge-
schichtsschreibung gefährdet, wird, denke ich, der heutige Tag Antwort geben.
Eine Voraussetzung für meinen Beitrag zur Situation von Aufarbeitungsinitia-
tiven sechs Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Befragung der Initiativen
durch die Enquete-Kommission. Ein Fragebogen mit 25 Fragen wurde den
Gruppen vorgelegt: Zum Gegenstand ihrer Arbeit, zu ihrem Wirkungskreis,
ihrer finanziellen Absicherung, der personellen Situation, ihrer Zusammenar-
beit mit anderen Gruppen und öffentlichen Stellen. Anführen sollten sie die
absehbaren Gefährdungen ihrer Arbeit. Um Stellungnahme wurden sie eben-
falls gebeten zu der Frage nach Schaffung einer Einrichtung zur Unterstützung
der Aufarbeitungsgruppen sowie der Beratung von Opfern – der Einfachheit
halber heute und hier kurz als Stiftung bezeichnet.

Antworten kamen von 67 Initiativen. Außer zur Vorbereitung dieser Anhörung
dienen die Fragebogen der Vorbereitung eines Handbuchs. Um hier möglichst
Vollständigkeit zu erreichen, sind weitere Recherchen notwendig. Meine Be-
schreibung der Situation der Aufarbeitungsinitiativen habe ich unterteilt in Ar-
beitsfelder der Initiativen und Arbeitsbedingungen. Zwei Antworten der Initia-
tiven möchte ich besonders hervorheben: Die absehbaren Probleme in ihrer
zukünftigen Arbeit und die Frage nach der Einrichtung einer Stiftung.

Den Punkt Arbeitsfelder beginne ich mit einer kurzen Beschreibung des Wir-
kungskreises der Initiativen. In 67 Antworten wählten sie unter den vier Mög-
lichkeiten lokal/örtlich, regional, landesweit und bundesweit fünfmal den re-

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Situation der Aufarbeitungsinitiativen

gionalen, elfmal den landesweiten und dreiundvierzigmal den bundesweiten
Wirkungskreis. Sehr oft waren mehrere oder alle vier Möglichkeiten ange-
kreuzt. Meine Erklärung dazu ist folgende: Die meisten der Initiativen be-
schäftigen sich mit der Geschichte eines Ortes oder haben in einem solchen
ihren Arbeitsmittelpunkt. Sie wirken aber durch die Besucher und Nutzer der
Einrichtungen mit Vorträgen und Ausstellungen über den Ort hinaus. Struktu-
rell oder auch nur ideell eng mit anderen Initiativen verbunden, vergrößert sich
ihre Wirkung. Nicht um bloßzustellen möchte ich zitieren. Eine Initiative
merkt folgendes an: „Wir haben Besucher von allen Kontinenten.“ Meine Da-
men und Herren, bitte nehmen Sie diese Wirkung ernst!

Die Arbeitsfelder der Initiativen lassen sich wie folgt kurz skizzieren: Der
Unterhalt von Gedenk- und Dokumentationsstätten, die Beratung von Opfern,
der Betrieb von Archiven, die politische Bildungsarbeit und eigene For-
schungs- und Publikationstätigkeit. Meist überschneiden sich die Arbeitsfelder
in einer Initiative. Bewußterhaltung der Ereignisse, Erinnerung an die Opfer,
Begreifen der totalitären Strukturen, so lassen sich die Ziele der Arbeit be-
schreiben. Die Erinnerung an Orte wie Bautzen, Hohenschönhausen, Buchen-
wald kann nur vor Ort geschehen. In ehemaligen Speziallagern, Haftanstalten,
an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, an den ehemaligen Orten der Macht
entstanden Gedenk- und Dokumentationszentren. Opferberatung ist ein weite-
res Arbeitsfeld der Initiativen. Sie sind Ansprechpartner für die Opfer. Sie hel-
fen ihnen bei Anträgen zur Rehabilitierung, bei der Durchsetzung von Renten-
und Vermögensansprüchen. Gleichzeitig vertreten sie die Interessen der Opfer
in der Öffentlichkeit wie bei der Erarbeitung und Novellierung der Unrechts-
bereinigungsgesetze. An dieser Stelle möchte ich auf einen Widerspruch hin-
weisen, der zwischen der erklärten Solidarität der Politik und dem besteht, was
für die einzelne, für den einzelnen an Unrechtsbereinigung herauskommt.
Solch einen Widerspruch erleben die Initiativen auch, wenn sie um Unterstüt-
zung bitten.

Das dritte Arbeitsfeld ist die Archivarbeit. Sie beginnt mit der Presseauswer-
tung und führt über Sammlungen zu thematischen bzw. zeitlichen Schwer-
punkten hin zu Dokumentationen von Materialien und Quellen der Hinterlas-
senschaften von Partei und MfS wie auch des Widerstandes dagegen. Ein be-
sonderer Fundus für die Forschung ist beispielsweise die Sammlung von ehe-
maligen Häftlingsbibliotheken. Die bereitgestellten Materialien bedürfen der
Kommentierung durch Zeitzeugen. Meist arbeiten sie selbst im Archiv. Erleb-
nisberichte ehemaliger Häftlinge werden gesammelt. Das Schicksal von Ver-
schollenen wird versucht zu klären über das Zusammenstellen von Haft- und
Totenlisten. Die Bildungsangebote reichen von Führungen, ständigen Aus-
stellungen, Wanderausstellungen bis zu öffentlichen Veranstaltungen. Wert
legen die Initiativen auf die Zusammenarbeit mit anderen Bildungsträgern.
Wichtig sind ihnen vor allen Dingen Angebote an Jugendliche. Eigene For-
schungen entstehen z. B. als Studien und Gutachten im Auftrag der Enquete-
Kommission. Zusammen mit den Erlebnisberichten erscheinen sie in eigenen