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Bernd Stöver
Die Debatte über den Fall Otto John in der politisch-
kulturellen Auseinandersetzung in Deutschland
1. | Der „Fall John“: Forschung, Quellen und offene Fragen |
2. | Die biographische Dimension: Der Widerstand gegen die NS-Diktatur als zentrale politische Erfahrung Otto Johns |
3. | Der beginnende Kalte Krieg und die Westbindungs- und Wiederbe- waffnungsdebatte als konstituierendes Moment des „Falles John“ |
4. | Die innenpolitische Auseinandersetzung um die Berufung Otto Johns zum Leiter des bundesdeutschen Verfassungsschutzes 1950 |
5. | Der Übertritt in die DDR am 20. Juli 1954: Bewußte Tat oder Entfüh- rung? |
6. | Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit |
7. | Die Tätigkeit Johns in der DDR und die politische Diskussion in den östlichen Medien |
8. | Die politisch-kulturelle Diskussion des „Falles John“ im Westen |
9. | Rückkehr in die Bundesrepublik 1955 und Prozeß 1956 |
10. | Die öffentlichen Bemühungen Otto Johns nach 1956 um Revision seines Verfahrens |
11. | Otto John – Ein Fazit |
Literatur | |
Zusammenfassung |
1. Der „Fall John“: Forschung, Quellen und offene Fragen
Am 20. Juli 1954, auf den Tag genau zehn Jahre nach dem gescheiterten At-
tentat auf Hitler in dessen ostpreußischem Hauptquartier „Wolfsschanze“, rei-
ste der seit 1950 als westdeutscher Verfassungsschutzpräsident tätige Otto
John in Begleitung von Wolfgang Wohlgemuth, eines Arztes aus West-Berlin,
über die Sektorengrenze nach Ost-Berlin ein. Dieser Grenzübertritt ist gut do-
kumentiert, unter anderem konnte der diensthabende Grenzer John und Wohl-
gemuth in dem Fahrzeug erkennen. Am 23. Juli, das Dokument selbst trägt das
Datum vom 22. Juli, sendete der Rundfunk der DDR eine erste Erklärung
Johns, die im Westen wie eine Bombe einschlug. John gab zu Protokoll, er sei
freiwillig in der DDR, protestiere damit gegen Adenauer, dessen Politik auf die
dauernde Spaltung Deutschlands hinauslaufe.1 In einer wenige Wochen später
am 11.8.1954 offiziell durchgeführten Pressekonferenz in Ost-Berlin hatte er
dies dann explizit ausgeführt. Adenauers strikte Politik der Westbindung zer-
störe jede Möglichkeit der Wiedervereinigung, zudem säßen in seiner Regie-
rung Täter aus der Zeit des Dritten Reiches. „Ich habe mich nach reiflicher
Überlegung entschlossen, in die DDR zu gehen und hier zu bleiben“, so John
dort, „weil ich hier die besten Möglichkeiten sehe, für die Wiedervereinigung
Deutschlands und gegen die Bedrohung durch einen neuen Krieg tätig zu sein.
Selbst viele kluge und aufrichtige Menschen in Westdeutschland sehen die Ge-
fahren, die uns bedrohen, nicht, weil sie durch die Propaganda der Bundesre-
gierung verblendet sind. Wieviele Menschen haben sich in Deutschland nicht
nach 1945 darauf berufen, daß sie vor 1933 die Gefahr des Nationalsozialis-
mus nicht hätten erkennen können? Deshalb halte ich es für meine Pflicht, jetzt
öffentlich und eindringlich das deutsche Volk vor den Gefahren zu warnen, die
uns heute bedrohen. Wenn der erste Schuß gefallen ist, wird es zu spät sein.
Als ich im Dezember 1950 mein Amt in der Bundesrepublik übernahm, hatte
ich die Illusion, am Aufbau eines neuen Deutschland mitzuarbeiten, das – ge-
reinigt vom Nationalsozialismus – allen Deutschen die Möglichkeit zur friedli-
chen Entfaltung ihres Lebens bieten würde. Statt dessen haben wir heute ein
geteiltes Deutschland, das in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West
zum Schauplatz eines neuen Krieges zu werden droht, der nicht nur unvor-
stellbare neue Leiden über uns bringen, sondern tatsächlich die Existenz-
grundlage unseres Volkes als Nation zerstören würde. Der Kommunismus ist –
ob man es mag oder nicht – eine Realität, die fast die Hälfte aller auf dieser
Erde lebenden Menschen umfaßt. Die Vorstellung – oder auch der Wunsch-
traum –, ihn wieder ’ausrotten zu können’, ist so töricht wie der Glaube Hitlers,
der das Christentum ausrotten wollte. [...] Das wollen die Amerikaner aber
nicht erkennen. Sie glauben, sie könnten früher oder später durch einen neuen
Kreuzzug gegen den Osten den Kommunismus noch einmal aus der Welt aus-
kehren oder wegfegen, und sie bereiten den Krieg vor. In dieser Entwicklung
ist die Bundesregierung durch die Verträge von Bonn und Paris zu einem
Werkzeug der amerikanischen Politik in Europa geworden. Die Amerikaner
brauchen zu ihrem Krieg gegen den Osten deutsche Soldaten. Dabei sind ihnen
selbstverständlich vor allem jene willkommen, die aus der deutschen Katastro-
phe nicht gelernt haben, sondern seitdem nur auf die Stunde warten, in der sie
für die Niederlage von 1945 Rache nehmen können. Deshalb sind in der Bun-
- Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS AP 11263/56, Bd. 16, Bl. 90.