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Vorsitzender Rainer Eppelmann: Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der Enquete-Kommission
möchte ich Ihnen allen ganz herzlich für Ihr Interesse danken, dafür, daß Sie
heute wieder zu uns gekommen sind und auch am zweiten Tag an unserer
Anhörung teilnehmen. Herzlichen Dank auch den wiedergekommenen Jour-
nalisten, insbesondere dafür, daß sie gestern noch gearbeitet haben, damit
die Öffentlichkeit heute erfahren kann, daß wir gestern zusammen waren und
heute wieder hier sind.
Wir werden uns auch heute erinnern, erinnern lassen und erinnern müssen.
Aufarbeitung von Vergangenheit ist ohne erinnern nicht möglich. Wir, die wir
gestern hier waren, haben miterleben und erfahren können, wie weh es tun
kann, sich wieder zu erinnern, auch wie weh es tun kann, solchen Erinnerungen
zuzuhören. Wenn uns die Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der
SED-Diktatur aber gelingen soll, dann werden wir uns diesem Prozeß des
Erinnerns immer wieder unterziehen müssen. So auch heute.
Wir werden zunächst einen Vortrag über „Repressionsmechanismen in der
DDR – Auswirkungen auf den Alltag“ von Herrn Professor Dr. Wolfgang
Schuller aus Konstanz hören und dann in einer Form, wie wir sie gestern
schon kennengelernt haben, eine Podiumsdiskussion mit Zeitzeugen unter der
Leitung von Karl Wilhelm Fricke „Politische Verfolgung im realen Sozia-
lismus“ durchführen. Gegen 12.00 Uhr wird die Präsidentin des Deutschen
Bundestages unter uns sein und ein kurzes Wort an uns richten. Mit einer
Pressekonferenz wird diese zweitägige Anhörung heute enden.
Bevor wir wieder in das ganz persönliche Erinnern hineingehen, jetzt ein
Vortrag, der grundsätzlicher, wissenschaftlicher ist. Ich bitte Sie, das Wort zu
nehmen, Herr Professor Dr. Wolfgang Schuller.
Prof. Dr. Wolfgang Schuller: Meine Damen und Herren! Die Zeit ist schon
ein bißchen weit fortgeschritten. Ich will versuchen, mich kurz zu fassen. Sie
werden mit mir heute einen regulären Westler hören, der sich allerdings –
das ist vielleicht auch ein Grund, weshalb ich eingeladen worden bin – schon
lange, bevor es sonst im Westen solch eine Massenbewegung gewesen ist, um
die Dinge gekümmert hat, die in der DDR geschehen sind. Weshalb ich hier
wohl auch eingeladen worden bin, ist die Tatsache, daß ich eine merkwürdige
Kombination von Jurist und Historiker bin. Ich habe meine Doktorarbeit über
das politische Strafrecht der DDR geschrieben. Das ist ein dickes Buch, das,
wie Sie sich denken können, vor dem Zusammenbruch des Kommunismus
in der DDR im Westen großenteils auf Desinteresse gestoßen ist, das aber
jetzt zu wirken beginnt. Außerdem bin ich Historiker geworden, und diese
Kombination ist es wohl, derentwegen ich hierher eingeladen worden bin.
Die Repression in der Gesellschaft der DDR ist kein Thema gewesen, das die
professionelle DDR-Forschung in der Bundesrepublik sehr beschäftigt hat.
Daran hat man gern vorbeigesehen. Mein Kollege Hermann Weber ist eine
der großen Ausnahmen. Er hat das in seinen Büchern über die DDR immer
thematisiert. Aber sonst war es eher etwas, was man ungern zur Kenntnis
genommen hat.
(Beifall der Abg. Angelika Barbe (SPD))
Meine Aufgabe ist es weniger, hier Details vorzutragen, obwohl ich beispiels-
halber dann auch auf Details kommen werde – diese sind großenteils bekannt
und werden hier immer benannt –, sondern ich will einen allgemeinen Rahmen
für die Einordnung dieser Dinge, so wie ich sie mir vorstelle, darlegen und
werde meine kurzen Ausführungen in drei Teile untergliedern: Erstens die
direkten Repressionsmaßnahmen – diesen Teil werde ich sehr kurz machen –,
zweitens – das halte ich für sehr wichtig –, wie diese direkten Repressions-
maßnahmen durch strukturelle, indirekte ergänzt worden sind, die eigentlich
die Basis dafür darstellten, daß sie wirken konnten und letztens die allgemeinen
Rahmenbedingungen in der Gesellschaft der DDR. Gestern hat sich durch eine
Frage gezeigt, daß es wichtig ist, auf diese Dinge einzugehen.
Was ich hier vortrage, wird etwas abstrakt und akademisch sein, aber ich
werde frei sprechen – das macht es vielleicht etwas lebendiger –, und es wird
in weniger als einer halben Stunden vorbei sein.
Also erstens die unmittelbaren Repressionsmaßnahmen, das, was wirklich
sichtbar geworden ist. Das Unmittelbarste und Deutlichste, das, worüber auch
am meisten geschrieben werden kann, ist natürlich das politische Strafrecht der
DDR, wobei auch eher unpolitische Teile des Strafrechts unter den allgemeinen
Bedingungen in der DDR politischen Charakter bekommen haben.
Vielleicht ist es gut, wenn ein Historiker hier einmal sagt, was die Charak-
teristiken dieses politischen Strafrechts und überhaupt des Strafrechts oder
sogar des Rechts der DDR gewesen sind, um es – auch anläßlich des
Prozesses gegen Erich Honecker und andere, die nun einen rechtsstaatlichen
Prozeß bekommen – ganz deutlich zu machen.
Das Strafrechtssystem und insbesondere auch das Prozessuale in der DDR
läßt sich vor diesem Hintergrund besonders deutlich erkennen, wenn man
sich darüber klar wird, was der Rechtsstaat ist. Der Rechtsstaat ist historisch
eine Errungenschaft der Aufklärung des 18. und des 19. Jahrhunderts, die
darauf aus war, zu verhindern, daß der Strafprozeß und das Bestrafen von
Menschen einfach nur eine Exekutivmaßnahme des Staates ist, um Gehorsam
zu erzwingen. Die Unabhängigkeit der Justiz und das Verhindern, daß jemand
anders, nämlich der Staat – entweder direkt oder im Hintergrund –, die Fäden
zieht, das ist im Kern das, was den Rechtsstaat ausmacht.
Wie Sie alle wissen, ist in der Deutschen Demokratischen Republik diese
Errungenschaft, die in sehr langen Kämpfen erkämpft worden ist, nun regulär
rückgängig gemacht, ja ich würde sagen, sogar noch hinter den Absolutismus
zurückgedrängt worden.