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Wahlperiode 12, Band II/1, Seiten 236 und 237
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Protokoll der 21. Sitzung

Als letzter Ulrich Schacht, der sich eigentlich nicht vorzustellen braucht, den
ich aber trotzdem darum bitte.

Ulrich Schacht: Ich bin am 9. März 1951 im Frauengefängnis Hoheneck in
Stollberg in Sachsen geboren worden, da meine Mutter zu diesem Zeitpunkt
aus politischen Gründen inhaftiert war. Ich bin nach einem Vierteljahr mit
anderen Kindern meiner Mutter und den Müttern dieser Kinder weggenommen
worden und bin zu Hause – im Heimatort der Familie, im mecklenburgischen
Wismar – aufgewachsen.

Meine Mutter ist 1954 nach dem Tode Stalins amnestiert worden. Seitdem
konnten wir wieder zusammenleben. Ich habe in Mecklenburg, d. h. in Wismar,
in den nächsten Jahren, rein äußerlich gesehen, eine normale Entwicklung
absolvieren können. Das begann zunächst mit der Grundschule und ging dann
über in das Erlernen eines Handwerks: Bäckerlehre.

Gleichzeitig habe ich in dieser Zeit begonnen, mich in der Jugendarbeit der
evangelischen Kirche zu engagieren, also in diesem Falle der evangelisch-
lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. Dort bin ich recht schnell in
Laienfunktionen hineingewachsen, die dazu führten, daß ich mich parallel
zum Abschluß der Lehre entschloß, meinen weiteren beruflichen Werdegang
im Rahmen der evangelischen Kirche zu versuchen. Ich habe dann ein Stück
weit in Schwerin am Katechetischen Seminar gearbeitet, vorher noch in
zwei psychiatrischen Einrichtungen Pflegedienste geleistet, über den zweiten
Bildungsweg die Hochschulreife nachgeholt und ab 1970 an der Universität
Rostock evangelische Theologie studiert.

Drei Semester weiter wurde ich wegen einer sogenannten Provokation im Fach
Politische Ökonomie im Rahmen eines Kolloquiums exmatrikuliert, habe dann
in Erfurt an der Predigerschule weiterstudiert und bin im März 1973 wegen des
„Verdachts planmäßig betriebener staatsfeindlicher Hetze“ in Wismar verurteilt
worden. Ich war ein knappes Jahr in Untersuchungshaft beim Ministerium für
Staatssicherheit in Schwerin und erfuhr während der Untersuchungshaft, die
über den Prozeßtermin hinaus anhielt, eine Verurteilung vor dem 1a-Strafsenat
des Bezirksgerichts Schwerin zu sieben Jahren Freiheitsentzug und fünf
Jahren Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte wegen „staatsfeindlicher
Hetze und Hetze gegen das sozialistische Ausland“, §§ 106 und 108 des
Strafgesetzbuches der DDR. Konkret bezog sich diese Verurteilung, die in
einem Berufsverfahren vor dem Obersten Gericht der DDR Anfang 1974
bestätigt wurde, auf eine jahrelange, sich steigernde organisatorische und
ideelle Tätigkeit im großen Rahmen der evangelischen kirchlichen Jugend-
und Studentenarbeit, eine Arbeit, die sich dezidiert als Widerstandstätigkeit
gegen die zweite deutsche Diktatur und ihren politischen Alltag verstand.

Konkret bedeutete dies unter anderem ab Ende 1968 die Organisation eines
Arbeitskreises, der eine Zeitschrift – natürlich nicht lizenziert – herausgab, die
auf ihrem Höhepunkt eine Verbreitung von Mecklenburg bis nach Sachsen

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SED-Diktatur – Unterdrückungsmechanismen/Alltag

hatte und unter anderem auch Schriften und Texte von Biermann enthielt.
Ich betone das nur deshalb, weil das natürlich in jenen Jahren ungefähr das
Schlimmste war, was man verbreiten konnte. Dieser Arbeitskreis war zugleich
geprägt von dem, was in der Tschechoslowakei über die historische Bühne
und scheinbar zu Ende gegangen war, und er war nicht zuletzt von meiner
politischen Grundhaltung geprägt, die sich auch gespeist hat durch die frühe
familiäre Erfahrung, daß die DDR vom ersten Tag ihrer Existenz an nichts
anderes gewesen ist als ein permanenter Anschlag auf die Würde des einzelnen
und die Würde aller.

Ich bin also an diesem Tisch natürlich kein Opfer des Systems, weil ich immer
ein kompromißloser Gegner des Systems war. Ich kann heute hier zu Ihnen
als Zeuge sprechen.

Gesprächsleiter Karl Wilhelm Fricke: Vielen Dank, Ulrich Schacht. – An
diesem Tisch sitzen Betroffene, Verfolgte, Opfer – wie immer Sie sie nennen
wollen – aus mehr als vier Jahrzehnten SED-Diktatur. Die Frage ist: War die
Repression, die sich in diesen individuellen Schicksalen auf zum Teil tragische
Weise widerspiegelt, nicht sehr viel stärker durch Kontinuität geprägt als durch
Wandel?

Ich möchte mit dieser Frage die Diskussion eröffnen und damit gleichzeitig
die Frage verbinden, die uns gestern schon bewegt hat: Inwieweit hat sich
das Wissen um diese Repression auf den Alltag der Menschen ausgewirkt?
War es die Angst vor Verfolgung, die das Verhalten vieler Menschen geprägt
hat? Waren es andere Anpassungsmechanismen? War es vielleicht auch das
Mißtrauen, das sich wie Mehltau über die Gesellschaft der DDR gezogen hat?
Was war eigentlich das Bestimmende?

Herr Schmutzler, darf ich Sie bitten, sich zunächst einmal dazu zu äußern.

Dr. Siegfried Schmutzler: Das muß man natürlich differenzieren. Als ich
mein Studentenpfarramt in Leipzig antrat, war dort eine Studentengemeinde
versammelt, die zum Teil aus Kriegsteilnehmern bestand, zum Teil aus
solchen, die schon zehnjährige Erfahrungen mit dem DDR-Staat gemacht
hatten. Man konnte davon ausgehen, daß das alles willige christliche Studenten
waren, die entschlossen waren, auch im Staat der Arbeiter und Bauern, der
sich als atheistisch definierte, christlich zu bleiben. Uns allen gemeinsam
war ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl, und wir hatten auch noch eine
Perspektive damals: Es gab nicht weniger als vier Patengemeinden im Westen,
die mit uns in Verbindung standen. Wir besuchten uns wechselseitig: Die von
drüben kamen zu uns, und wir konnten zu denen gehen. Die Mauer stand ja
noch nicht, sie ist erst 1961 gebaut worden. Es gab also noch so etwas wie eine
Perspektive. Jeder Kirchentag – schon der 1951 in Berlin und auch die späteren
Kirchentage – war auch ein Hoffnungszeichen dafür, daß die Vereinigung des
getrennten Deutschlands zwar schwierig sein, aber doch bald kommen wird.