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Vorsitzender Rainer Eppelmann: Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich eröffne die 28. Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von
Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ zum Thema
„Marxismus-Leninismus und die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR“.
Wir können mit gerade noch entschuldbarer Verspätung beginnen. Alle, die
von hier vorn etwas sagen wollen, sind da. Wir sind aber im Augenblick noch
nicht ganz vollzählig, das liegt daran, daß im Augenblick noch Abstimmungen
im Plenum sind. Wir müssen leider unsere öffentliche Anhörung so gegen
11.30 Uhr unterbrechen, weil dann alle Bundestagsabgeordneten, wenn ich
richtig informiert bin, für vier namentliche Abstimmungen den Raum verlassen
müssen. Ich vermute, daß sie so innerhalb von 20–25 Minuten wieder hier
sein werden. Die Nichtabgeordneten des Deutschen Bundestages mögen dies
bitte entschuldigen, aber das läßt sich leider nicht anders machen.
Die heutige 28. Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Ge-
schichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, die als öffentliche
Anhörung durchgeführt wird, wendet sich einem Thema zu, dessen Formu-
lierung zunächst etwas gezwungen klingen mag: „Marxismus- Leninismus
und die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR.“ Werden hier nicht die
Höhen der reinen Theorie auf problematische Weise mit den Niederungen der
gesellschaftlichen Praxis zusammengebracht? Um diese Frage zu beantworten,
erinnere ich an die elfte Feuerbachthese von Karl Marx, die, über lange
Jahre hinweg unübersehbar, das Foyer der Humboldt-Universität in Berlin
schmückte. Dort stand oder steht: „Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“. Das war
ernst gemeint, der Marxismus-Leninismus will bewußt die Welt verändern,
will die Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen, und sich daran messen
lassen, in welcher Weise er die gesellschaftlichen Verhältnisse umzugestalten
vermag. Diesen Anspruch äußerten die Väter des Marxismus-Leninismus, ja
mir fällt kein besseres Wort ein, mit den Worten einer Pseudo-Religion. Bereits
jedes Kind in der DDR, jedes Schulkind, kannte Lenins Feststellung aus dem
Jahre 1913: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“. Auch
dieser Satz zierte so manche Wand in öffentlichen Gebäuden der DDR und
verkündete das Selbstverständnis des Marxismus-Leninismus. Dessen Vertreter
und Interpreten traten gegenüber den ihnen ausgelieferten Menschen wie
allwissende Überväter oder wie Messiasse auf. Gegenüber ihrer Botschaft
konnte es keine Halbherzigkeiten geben, sie verlangten unbedingten Glauben
und dogmatische Standfestigkeit.
In der heutigen Anhörung, so hoffe ich, werden wir zunächst etwas da-
von erfahren, was nun wirklich der wissenschaftliche Kern des Marxismus-
Leninismus war. Wichtiger scheint mir aber die Frage nach den Auswirkungen
zu sein, die die Pseudo-Religion des Marxismus-Leninismus auf die alltägliche
Praxis in der Gesellschaft der DDR hatte. In den Vorträgen der Wissenschaftler
und Wissenschaftlerinnen, die der Einladung der Enquete-Kommission gefolgt
sind, und den Schilderungen der Zeitzeugen am Ende der heutigen öffentlichen
Anhörung, die ich gleichfalls herzlich begrüße, wird wahrscheinlich schnell
erkennbar werden, daß das Scheitern der marxistisch-leninistischen Theorie
in der Praxis vor allem in seinem falschen und unrealistischen Menschen-
bild begründet ist. Marx und Lenin entwarfen meiner Meinung nach einen
künstlichen Menschen, mit dem sie die Welt verändern wollten. Das mußte
schief gehen, weil reale Menschen diesem Kunstgebilde zwanghaft angepaßt
werden sollten. Auch der SED-Staat vermochte es von Anfang an nicht, den
Ansprüchen der marxistisch-leninistischen Theorie zu entsprechen und mußte
ständig neue Kompromisse mit einer Wirklichkeit schließen, die sich der
Theorie des Marxismus-Leninismus einfach nicht anpassen wollte. Trotzdem
gestaltete der Versuch der Weltveränderung, der von den Regierenden, z. B.
in der DDR, unternommen wurde, die sozialen Bedingungen der Menschen
auf grundlegende Weise um. Und diese Veränderungen der sozialen Rahmen-
bedingungen bewirkten zwangsläufig die Zerstörung personaler und bewähr-
ter ethischer Werte der Menschen. Das gesellschaftliche Elend produzierte
zunehmend das ökonomische und schließlich auch das ethische Elend. Am
Ende dieser Entwicklung brach die allein nicht lebensfähige und ungeliebte
SED-Diktatur zusammen. Es trat das ein, was Lenin einmal so ausdrückte:
„Erst dann, wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die
Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die
Revolution siegen.“ Die Wahrheit dieses Wortes erwies sich in den Herbst-
tagen des Jahres 1989, als zuletzt Hunderttausende auf die Straßen gingen,
um ihre Menschenwürde zurückzuerobern und damit einen neuen Typ von
Revolution praktizierten, nämlich die friedliche Revolution, den die Klassiker
des Marxismus-Leninismus nicht vorgesehen hatten.
Ich darf nun Frau Kollegin Wisniewski und danach Herrn Professor Weber
bitten, uns ihre Einführung in die heutige Anhörung zu geben. Bitte Frau
Wisniewski.
Abg. Frau Prof. Dr. Wisniewski (CDU/CSU): Herr Vorsitzender, meine
Damen und Herren! Wir wissen es alle, der Kommunismus und der real
existierende Sozialismus sind Verwirklichungen der philosophisch-politischen
Theorie des Marxismus. Dieses politische System stieß bei den Menschen
nicht auf freiwillige Zustimmung, sondern konnte nur durch Zwang eingeführt
und erhalten werden. Die Verwirklichung des Marxismus-Leninismus in den
politischen Systemen der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten hat Leid,
Tod und Armut über sehr viele Menschen gebracht, bis dann der große
Zusammenbruch nach über siebzig Jahren kam.
Die Auseinandersetzung mit der philosophisch-politischen Theorie des Mar-
xismus muß auch im Rahmen dieser Enquete-Kommission geschehen. Ich