Fehler melden / Feedback
- Versuche, den Zusammenbruch des DDR-Systems nicht durch den Unter-
drückungscharakter, nicht durch die gesellschaftlichen Widersprüche, nicht
durch den Massenwiderstand der Bevölkerung zu erklären – was der Wahr-
heit entspräche – sondern durch einen angeblichen Verrat Gorbatschows
oder „Verrat der Sowjets“. - Versuche, eine objektive Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu verwässern,
indem man die gesamte deutsche Geschichte seit 1933 einbezieht, die ge-
samten internationalen Beziehungen seit 1933 mit gleichartiger Schuldzu-
weisung an beide deutsche Staaten (Bundesrepublik und DDR). Dies zeigte
sich besonders kraß im ausführlichen Interview mit Wolfgang Harich im
„Neuen Deutschland“ (16.-17. Januar 1993). Aber das Groteskeste, was ich
je im „Neuen Deutschland“ gelesen habe, war ein Beitrag vom 18. Januar
1993. Ich bin Abonnent, lese diese Zeitung sehr aufmerksam und bin fair
gegenüber dem „Neuen Deutschland“. Ich leugne nicht, daß das „Neue
Deutschland“ auch einige interessante Aufarbeitungen der DDR-Geschichte
veröffentlicht hat.
Was jedoch am 18. Januar 1993 im „Neuen Deutschland“ erschien, nämlich das
programmatische Dokument der von Wolfgang Harich geleiteten „Alternativen
Enquete-Kommission Deutsche Zeitgeschichte“, stellt alles bisher Gewesene
in den Schatten. Da werden acht Fragen formuliert, die im Mittelpunkt der
historischen Forschung über deutsche Zeitgeschichte stehen sollen. Alles wird
erwähnt – nur die DDR und SED nicht. Keine einzige Frage zur Entwicklung
des DDR-Systems! Alles wird verwässert, um von den Realitäten der DDR
abzulenken. Da ich für Wahrheit und auch wahrheitsgetreue Bezeichnungen
bin, schlage ich vor, daß die „Alternative Enquete-Kommission Deutsche Zeit-
geschichte“ sich umbenennt in „Propaganda-Kommission zur Verhinderung
der Aufarbeitung der DDR-Geschichte“.
Schlußfolgerungen
Der Marxismus-Leninismus ist mitsamt seinen Schulungseinrichtungen, Lehr-
büchern, Konzeptionen und Thesen zusammengebrochen. Dies aber bedeu-
tet noch keinen endgültigen Sieg demokratischer rechtsstaatlicher Prinzi-
pien. Das Problem existiert weiter und stellt sich dar durch Versuche, die
DDR-Vergangenheit zu beschönigen und einer Analyse der Geschichte und
des Studiums des Systems der DDR auszuweichen. Dies bedeutet, daß die
geistig-politische Auseinandersetzung weitergeht – gewiß nicht in der früheren
Form einer Frontalkritik am Marxismus-Leninismus. Das ist längst passé. Wir
haben vielmehr die Aufgabe, deutlich Stellung zu beziehen gegenüber allen
Versuchen, die SED-Diktatur zu beschönigen, ihren Unterdrückungscharakter
zu verharmlosen, den diktatorischen Charakter durch die angebliche interna-
tionale Situation zu rechtfertigen und uns vor allem gegen die Dolchstoßle-
gende zu wenden, wonach an allem Gorbatschow schuld gewesen sei. Wir
stehen vor neuen Aufgaben. Demokratische Historiker, Politikwissenschaftler
und Publizisten haben neue Schwerpunkte mit neuen Zielsetzungen in der
politisch-ideologischen Auseinandersetzung – vor allem die Analyse und
Aufklärung über die Geschichte und das System der DDR.
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Mein Kompliment denjenigen, die dafür
gesorgt haben, daß diese beiden Referenten heute hier vorgetragen haben. Mir
hat es ausgesprochen Spaß gemacht, dem letzteren zuzuhören. Ich glaube, wir
können gleich übergehen zum Referat von Professor Wilhelm Ernst.
Prof. Dr. Wilhelm Ernst: Also, Spaß bei Seite, Ernst komm her. Meine sehr
verehrten Damen und Herren!
Die Zerstörung personaler und sozialer Werte im Sozialismus,
so heißt mein Thema. Ich würde gerne anfangen mit folgendem Gliederungs-
punkt:
1. Von der Schwierigkeit, die Vergangenheit zu bewältigen.
Es geht ja hier um die Frage der Vergangenheit, ihre Bewältigung und
Aufarbeitung.
Wer vierzig Jahre lang oder mehr in dem System gelebt hat, das sich als
Sozialismus bezeichnete und sich mit Stolz erster sozialistischer Staat auf
deutschem Boden nannte, der war, und damit möchte ich einleiten, von diesem
System auf mehrfache Weise betroffen und der ist es bis heute. Er ist objektiv
davon betroffen durch die Tatsache, daß er in diesem System leben mußte
und, ob er wollte oder nicht, daß er nicht aus ihm heraus konnte und er
auch damit rechnen mußte, daß er in diesem System sterben würde. Ich
habe dreißig Jahre lang Staatslehre gelesen am Philosophisch-Theologischen
Studium in Erfurt, dreißig Jahre lang Staatslehre, das muß man sich in dem
System einmal vorstellen, denn wir waren ja vom Staat völlig unabhängig.
Anfang der achtziger Jahre kamen die Studenten zu mir und sagten: Herr
Professor, warum lesen Sie das eigentlich noch? Wir werden es in unserem
Leben überhaupt nicht mehr erleben, daß irgendeine Änderung kommt.
Hier sehen wir zunächst die objektive und existentielle Betroffenheit. Als
nächstes stellen wir fest, daß jeder auch personal und in seinem ganzen
Lebensentwurf von diesem System betroffen gewesen ist. Ich sehe hier viele
von denen, die mit uns alles durcherlebt haben. Wir sind alle davon betroffen
gewesen. Das heißt, jeder mußte auf irgendeine Weise zu diesem System
Stellung nehmen. Er konnte sich mit dem System, mit dessen Ideologie, mit
der erlebten Wirklichkeit, identifizieren, und Wolfgang Leonhard hat zu Recht
gesagt, daß es eine ganz große Gruppe gab, die das tatsächlich getan hat, und
das sogar alles mit Überzeugung. Man konnte aber auch sein Leben in diesem
System als unausweichliches Schicksal verstehen und versuchen, sich in
diesem System so einzurichten, daß man an der Schwelle von Beruf und Erfolg
Kompromisse machte. Man mußte schließlich zum Teil sein Gewissen dabei
aufgeben, auch das haben viele getan. Schließlich blieb als dritte Möglichkeit