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Wahlperiode 12, Band VII/1, Seiten 180 und 181
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Protokoll der 68. Sitzung

Vorsitzender Rainer Eppelmann: Am gestrigen Tage haben wir im histori-
schen Rückblick erfahren, daß es zu jeder Zeit der Deutschen Demokratischen
Republik oder davor der SBZ widerständiges und oppositionelles Verhalten
gegen die Diktatur gegeben hat.

Am heutigen zweiten Tag beschäftigt sich unsere Enquete-Kommission mit
zwei weiteren Bereichen dieses Themenkomplexes. Zunächst werden wir in
einem Vortrag und in Zeitzeugenberichten etwas über das „widerständige
Verhalten des einzelnen“ hören. Dabei fällt mir ganz spontan ein Buchtitel
von Hans Fallada ein, der fast sprichwörtlich gestaltet ist: „Jeder stirbt
für sich allein“. Fallada erzählt in diesem späten Roman die Geschichte
eines Arbeiterehepaars in der Zeit des Nationalsozialismus, das beschließt,
irgend etwas gegen das überall vorherrschende Unrecht zu unternehmen.
Ohne jede Verbindung zu anderen verteilen sie Zettel in die Briefkästen
der Nachbarschaft, auf denen sie ihren Protest niedergeschrieben haben. Die
beiden werden sehr rasch von der Gestapo ermittelt, verhaftet und zum Tode
verurteilt: Jeder stirbt für sich allein. Der moralische Mut, der diese einfachen
Menschen bis zum Tode beseelte, ist von Fallada auf eindrucksvolle Weise
geschildert worden. Diese Menschen fragten nicht nach Unterstützung und
suchten keine Verbündeten. Sie taten das, was ihnen ihr Gewissen befahl.
Die Rache des Regimes für die wenigen Zettel, die sie als Protest verteilen
konnten, nahmen sie auf sich und gingen ungebrochen in den Tod.

In der DDR wurden solche Opfer nur von vergleichsweise wenigen verlangt,
obwohl ich auch hier fragen möchte: Was wissen wir von denen, die von
der SED-Diktatur wegen „politischer Delikte“ in Geheimprozessen verurteilt
und hingerichtet wurden? Was wissen wir von denen, die unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen wie Wirtschaftsvergehen, Zerstörung sozialistischen Eigen-
tums oder Rowdytum abgeurteilt wurden? Es gab doch auch diese Opfer. Wir
sind es ihrem Andenken schuldig, uns an sie zu erinnern.

Der politische Widerstand in der DDR wurde immer auch von dem wider-
ständigen Verhalten einzelner getragen. Die Motive dazu konnten sehr unter-
schiedlicher Art sein. Ich erinnere hier noch einmal an Oskar Brüsewitz, der
sich am 18. August 1976 vor der Michaelskirche in Zeitz selbst verbrannte.

Auch er war einer, der in seinem Widerstand weithin einsam blieb, auch in
seiner Gemeinde und in seiner Kirche. Selbst wenn es richtig ist, daß jeder
politische Widerstand mit dem Entschluß des einzelnen beginnt „Bis hierher
und nicht weiter“, so führt dieser in der Regel doch dazu, daß man nach
Gleichgesinnten sucht. Wer wirksam Widerstand leisten will, braucht Freunde,
Verbündete, Rückhalt in einer Gruppe, die Unterstützung durch die Medien,
ausländische Politiker und eine möglichst breite interessierte internationale
Öffentlichkeit.

Als die DDR-Führung 1961 die Mauer baute, beseitigte sie damit selber die
wirksamste Methode, den Widerstand in ihrem Bereich klein zu halten. Der

181
Widerständiges und oppositionelles Verhalten

Ausweg in den Westen war nun nicht mehr möglich oder zumindest über
eine ganze Reihe von Jahren nicht und auch nachher nicht für jeden. Aber
jetzt gab es nur noch die Möglichkeit, im eigenen Land den Widerstand zu
proben. Dieser erwuchs aus kleinen Anfängen. Solche Anfänge gab es an den
Universitäten, in den Betrieben, in den Kirchen, in den Schulen und vereinzelt
sogar auch in der SED und in den Blockparteien. Politisch wirksam wurde er
dort, wo sich Gruppen bildeten, die diesem Widerstand Basis, Rückhalt und
Kontinuität boten.

Spätestens zu Beginn der achtziger Jahre begannen sich diese sehr verschie-
denartigen Gruppen miteinander zu vernetzen. Zunächst geschah dies im Raum
der evangelischen Kirchen, ab Mitte der achtziger Jahre, und dann sehr bewußt,
auch darüber hinaus. Es kam dabei immer wieder zu Koalitionen, die nur
unter den Bedingungen der SED-Diktatur möglich waren. Christen operierten
gemeinsam mit Marxisten, suchten die Verbindung zur Friedensbewegung,
erkannten die grundsätzliche Bedeutung des Eintretens für die Menschenrechte
und begriffen, daß alles politische Wollen gegenstandslos sein würde, wenn
es nicht gelingt, die Bewahrung der Schöpfung zu organisieren.

Diese Koalitionen der politischen Vernunft gegenüber einer Diktatur, die
immer unvernünftiger handelte, traten aus den Kreisen kleiner und kaum be-
merkbarer Zirkel in das Licht der Öffentlichkeit, als die politischen Rahmenbe-
dingungen dies dann endlich zuließen. Die internationale Entspannungspolitik
und die politischen Umgestaltungen in der Sowjetunion schufen maßgebliche
Voraussetzungen dafür, daß das, was zunächst nur einzelne und kleine Gruppen
beschäftigte, auf breite Kreise der Bevölkerung übergriff. Da wurde der Satz
von der „Idee, die zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift“,
auf eine Weise Realität, die wir so zumindest in der Schule nicht gelernt
hatten.

Die Opposition in der DDR, entstanden im widerständigen Verhalten unge-
zählter, vor allem auch unbekannter einzelner, organisiert und gefestigt in
den zahlreichen Gruppen, die über die Zukunft ihres Landes nachdachten
und immer offener für neue Lösungen eintraten, erzwang den Sturz der
SED-Diktatur, als die Hunderttausende auf der Straße skandierten: „Wir sind
das Volk!“

Die Geschichte der Opposition in der DDR begann als die Geschichte von
einzelnen Menschen, die auf ihre ganz eigene und unterschiedliche Weise
Widerstand leisteten. Sie endete mit dem Widerstand großer Teile des Volkes,
die gegen ihre Entmündigung auf die Straße gingen. Ich hoffe, daß es uns
heute gelingt, etwas von dieser Geschichte so festzuhalten, daß uns das Erbe
dieser Opposition auch in der Zukunft noch hilfreich sein kann. (Beifall)

Wir hören als ersten Herrn Schmidt, der bei der Behörde des Bundesbeauf-
tragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR,
Außenstelle Gera, beschäftigt ist, über „Widerständiges Verhalten des einzel-