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scheiterten und gingen unter. Mit ihrer ganz besonderen Grenze ließ die
DDR die ganze Welt wissen, wie breit und wie existenzgefährdend für sie die
Ablehnung durch ihre Bürger war. Sie brauchte Gewalt, um die Abstimmung
mit den Füßen gegen sich aufzuhalten. Während der Jahre der SED-Herrschaft
bauten sich gleichwohl immer neue Ausreisewellen auf.
Der ständige Aderlaß kostete die DDR-Gesellschaft eine Vielzahl junger,
aufbaubereiter Menschen, erfahrener Ingenieure und Landwirte, Ärzte, Kran-
kenschwestern sowie anderer Berufsgruppen.
Die Klage eines Dissidenten wie Biermann, als sogar ein Havemann-Sohn
in den Westen abhaute, beschreibt den Verlust für die Opposition. Waren die
Ausreiser, wie Biermanns Verse andeuteten, „Ausreißer“, Deserteure, oder
waren sie vielleicht Opponenten, die ihre Tat als Akt der Opposition begriffen?
Lockte sie vor allem der Glanz westlicher Konsumfreiheit, statt die Hoffnung
auf politische Bürgerrechte? Die SED jedenfalls erklärte sie zu Gesindel, zu
Abschaum. Mein eigener überraschender Eindruck, als ich 1961 erstmals
mit einer größeren Zahl geflohener Schüler und Studenten zusammentraf,
war der von ganz normalen Gleichaltrigen ohne nennenswertes politisches
Engagement. Sie hatten es gleichwohl in der DDR nicht ausgehalten. Seitdem
ist es für mich immer das denkbar negativste Urteil über ein politisches
Regime, wenn es nicht nur entschlossene Oppositionelle, sondern absolut
durchschnittliche Bürger massenhaft in die Flucht treibt.
Halbgewußtes und Vorurteile begegnen den Ausreisern von ehedem bis heute,
im Westen wie im Osten. Wir wollen heute mehr über sie erfahren. Was
bewegte sie? Was trieb sie an? Wie überwanden sie die ihnen auferlegte
Isolation, stellten sie Kontakte untereinander her, organisierten sich sogar?
War ihre Forderung „Wir wollen raus!“ gefährlicher für den Bestand des SED-
Regimes als die trotzige Kampfansage mit dem Satz „Wir bleiben hier!“? Wie
ging es den Übergesiedelten in der für sie neuen westlichen Gesellschaft?
Wie immer haben wir sachkundige Referenten eingeladen und Menschen, die
aus eigenem Erleben über das, was hinter ihnen lag und die dieses Schicksal
hatten, berichten können. Zunächst werden wir die Begrüßung durch den
Direktor beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-
dienstes der ehemaligen DDR, Herrn Dr. Geiger, anhören.
Dr. Hansjörg Geiger: Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Sehr geehrte Damen
und Herren! Zu diesem Thema möchte ich einige Anmerkungen vortragen,
die die Auswirkungen politischer Entwicklungen auf die Tätigkeit des
Ministeriums für Staatssicherheit beschreiben. Die Übersiedlung, also die
„ständige Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach
nichtsozialistischen Staaten und Westberlin“ – so die Definition der DDR –,
ist aus mehreren Gründen exemplarisch für den Umgang der Machthaber in
den sozialistischen Staaten mit ihren Bürgern sowie für die Folgen, die der
Entspannungsprozeß – der Grundlangenvertrag zwischen beiden deutschen
Staaten, der KSZE-Prozeß sowie die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte
von Helsinki – auf die DDR hatten.
Selbst nach dem Bau der Mauer und der Errichtung hocheffizienter Grenz-
sicherungsanlagen blieb der Wille größerer Teile der Bevölkerung in der
DDR offensichtlich ungebrochen, ein Leben unter „kapitalistischen Bedin-
gungen“ dem Leben im „real existierenden Sozialismus“ vorzuziehen. Auch
Indoktrination und Propaganda konnten offensichtlich hieran nur wenig än-
dern. Jedenfalls vermochten sie nicht, den Wunsch zahlreicher Menschen zu
ersticken, unter anderen politischen und auch ökonomischen Bedingungen
als in der DDR zu leben. Wie hilflos letztlich die herrschenden Kreise der
DDR diesem Phänomen gegenübergestanden sind, zeigen die Maßnahmen, die
allein zur Verhinderung der Übersiedlung – also nicht zur Verhinderung von
Fluchtversuchen – in den siebziger und achtziger Jahren getroffen wurden.
Einer der Höhepunkte der Verschärfungsmaßnahmen auf diesem Gebiet war
die Weisung des Ministers des Inneren der DDR vom 14.11.1972, selbst die
Übersiedlungen der Personen nach der BRD bzw. West-Berlin zu stoppen,
die im Rahmen der Familienzusammenführung bis dahin in beschränktem
Umfange möglich waren. Einbezogen in diese Weisung waren aber auch die
Übersiedlungen von Amnestierten.
Für den Stellenwert, den die Übersiedlungsproblematik für die Führung der
DDR hatte, sowie für die Entwicklung des Ministeriums für Staatssicher-
heit in ein weiter perfektioniertes Organ des alle Bereiche durchdringenden
Repressionsapparates ist der Befehl Nr. 1/75 vom 15.12.1975 signifikant.
Er trug folgenden Titel: „Zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung
des ungesetzlichen Verlassens der DDR und Bekämpfung des staatsfeindli-
chen Menschenhandels“. Dieser Befehl war von Minister Mielke persönlich
unterzeichnet. Darin wird ausdrücklich angeordnet, daß die „zielgerichtete
Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der
DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels Aufgabe
aller Diensteinheiten des MfS“ ist. Hierzu hatten die Leiter der Dienstein-
heiten – ich zitiere – „den konzentrierten Einsatz aller geeigneten Kräfte,
Mittel und Methoden, die zielstrebige Ausschöpfung aller politisch-operativen
Möglichkeiten des MfS und der Möglichkeiten anderer Schutz- und Sicher-
heitsorgane, staatlicher und wirtschaftsleitender Organe, Betriebe, Kombinate
und Einrichtungen sowie gesellschaftlicher Organisationen und Kräfte in ihren
Verantwortungsbereichen zur Lösung dieser Aufgaben zu gewährleisten.“
Aus diesem Satz wird zweierlei deutlich: einmal die außerordentlich enge
Zusammenarbeit des MfS mit den anderen Sicherheitsorganen, den gesell-
schaftlichen Organisationen, aber auch mit den Einrichtungen der Wirtschaft,
also sein flächendeckendes, alles umspannendes Wirken, mit dem Ziel, die
Ausreise von DDR-Bürgern zu verhindern; zum anderen der massive Einsatz
aller dem MfS zur Verfügung stehenden Mittel in der DDR wie im Ausland