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Sollte oder müßte dieser Personenkreis als „verbrecherisch“ bezeichnet wer-
den?
In der zweiten Reihe folgt schon eine größere Gruppe: Extrem-Privilegierte,
die der DDR bewußt den täuschenden Anstrich der Demokratie und Seriosität
verschaffen halfen. Ich denke an die Vorsitzenden und die stellvertretenden
Vorsitzenden der Blockparteien, der Massenorganisationen, der Verbände, an
die Mitglieder des Ministerrates, an die Kombinatsdirektoren, an Direktoren
von Universitäten und Hochschulen.
In der dritten Reihe folgen die vielen Überzeugungsquäler und die Doppelzün-
gigen, die um ihrer eigenen Vorteile willen mit den Diktatoren gemeinsame Sa-
che gemacht haben: Generäle, Direktoren, Vorsitzende, die ZK-Mitglieder, die
leitenden hauptamtlichen Mitarbeiter der SED und der Blockparteien, haupt-
amtliche und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, manche hochdeko-
rierte Künstler und Sportler, Kirchenmänner und Kirchenfrauen. – Sollte oder
müßte der zweite oder dritte Personenkreis nicht für immer oder zeitweilig
davon ausgeschlossen sein, politische, ökonomische, kulturelle und juristische
Grundlinien unseres Staates erarbeiten und durchsetzen zu können?
In der vierten Gruppe befindet sich die übergroße Mehrheit von uns Ostdeut-
schen: Sie haben ihren (Schein-)Frieden mit der Diktatur gemacht. Sie waren
nicht organisiert oder nur im FDGB oder einer anderen Massenorganisation
oder Normalmitglied in einer der Blockparteien oder der SED. Oft waren sie
darum bemüht zu bewegen, zu helfen, zu verändern; am Ende eines solchen
Bemühens stand leider oft die Erkenntnis, nur sich selbst verändert – sprich:
angepaßt – zu haben. Die vielen DDRler wollten nur – mir sehr verständlich –
möglichst gut leben, in Ruhe leben und arbeiten, was erreichen, möglichst
fleißig und ehrlich, möglichst glücklich und zufrieden sein.
Alle diese ganz menschlichen Wünsche und Erwartungen hatten auch die
wenigen der fünften Gruppe. Auch sie standen nicht ständig auf der Straße.
Wer könnte das schon?! Manchmal redeten und handelten sie aber so, daß sie
den Ärger und den Zorn der Diktatoren auf sich zogen und für ihr sogenanntes
Mißverhalten bestraft wurden.
Viele Menschen aus den Gruppen 4 und 5 sollten die Leiter und Verant-
wortlichen von heute und morgen sein, die der Gruppen 2 bis 5 diejenigen,
die engagiert den einheitlichen Sozialstaat und Rechtsstaat Deutschland mit
aufbauen. Was geschieht aber – nun frage ich auch nach juristischen Konse-
quenzen – mit den Menschen der ersten und manchmal sicherlich auch der
zweiten Gruppe? – Gab es in der DDR Regierungskriminalität? Wie ist mit ihr
umzugehen? Was können die Juristen dabei leisten? Wer ist noch gefordert?
Ich bin gespannt, was uns Politikern und Staatsbürgern die Juristen heute
empfehlen werden. (Beifall)
Ich bitte jetzt Sie, Herr Schaefgen, ans Mikrophon.
Christoph Schaefgen: Meine sehr geehrter Damen und Herren! Lassen
Sie mich zur Absteckung des Themas kurz etwas zu dem Begriff der
Regierungskriminalität sagen, der aus meiner Sicht nicht ganz treffend
ist. Es geht nicht nur um die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, das
Handeln der Regierung als solcher als eines Organs der DDR strafrechtlich
zu untersuchen. Das Strafrecht befaßt sich nur mit dem Verhalten von
Personen. Es ist aber auch insofern mißverständlich, als es zu der Annahme
verleitet, nur die von den Mitgliedern der Regierung begangenen Straftaten
unterlägen der strafrechtlichen Verfolgung. In Wirklichkeit beinhaltet der
Auftrag, Regierungskriminalität aufzuklären und zu ahnden, die Verpflichtung,
alle staatlich begangenen Straftaten zu verfolgen.
Der Ausdruck „Funktionärskriminalität“ trifft deshalb die Sache besser.
Gleichwohl meine ich, daß man es bei dem Begriff „Regierungskriminalität“
belassen sollte. Er hat sich inzwischen einen sicheren Platz in unserem
Sprachgebrauch erobert. Jeder weiß heute, was mit dieser Bezeichnung be-
schrieben werden soll: Die Verletzung von Strafgesetzen durch die Machthaber
der DDR in Ausübung ihrer Funktion im Staat und in der SED bzw. den
Blockparteien.
Da Berlin der Sitz der Regierung des zentralistisch gelenkten Staates und
Sitz der allmächtigen SED-Führung war, war aufgrund des für die Strafver-
folgungszuständigkeit maßgebenden Tatortprinzips mit dem 3. Oktober 1990
Berlin die Aufgabe zugefallen, die Handlungsweisen der führenden Repräsen-
tanten von Staat und Partei der DDR nach den Regeln der Strafprozeßordnung
unter strafrechtlichen Aspekten zu würdigen. Die Schwierigkeit und Bedeu-
tung der neuen Aufgabe ließen es geboten erscheinen, diese nicht auch noch
der ohnehin schon überlasteten Berliner Staatsanwaltschaft beim Landgericht
aufzubürden, sondern sie einer besonderen Arbeitsgruppe, die unmittelbar dem
Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht unterstellt ist, zu übertragen.
Es hat sich schnell herausgestellt, daß die Arbeitsgruppe, die zunächst
nur aus sieben Mitarbeitern bestand, personell restlos überfordert war. Die
Einsicht, daß Berlin geholfen werden muß, weil die Aufarbeitung der
Regierungskriminalität eine gesamtdeutsche Verpflichtung ist, ist in den alten
Bundesländern auch bald gewonnen worden. Allerdings ließ die notwendige
personelle Unterstützung zu lange auf sich warten. Erst im Mai 1991 wurde
der Beschluß gefaßt, 60 Staatsanwälte und Richter nach Berlin zu entsenden.
Erst Ende 1991/Anfang 1992 wurde dieser Beschluß richtig umgesetzt. Der
60. der zugesagten Mitarbeiter ist bis heute nicht eingetroffen. Dieses zeitliche
Auseinanderklaffen von Willensbildung und Durchsetzung kann nachdenklich
stimmen.
Aus der allgemeinen Verfolgungszuständigkeit der Staatsanwaltschaft beim
Landgericht Berlin sind folgende Verfahren herausgenommen worden und
der Arbeitsgruppe übertragen worden: Verfahren gegen Angehörige der