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Wahlperiode 13, Band III/1, Seiten 410 und 411
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Protokoll der 29. Sitzung

Abwanderung befürchtet, wer eigentlich die Personen sind, die aus dem We-
sten in den Osten wandern? Was bewirken sie dort? Ist das nicht möglicher-
weise ein entgegenlaufender „brain drain“? Zur Beantwortung dieser Fragen
müßte man in die Befragungsmethodik gehen. In diesem Fall könnte man sich
nicht mehr auf die Statistik zurückziehen. Vielen Dank.

Gesprächsleiter Abg. Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen
Dank, Herr Professor Ronge. Bevor wir in die Diskussion starten, haben wir
noch einen Punkt auf der Tagesordnung, der ein bißchen aus dem Rahmen
fällt. Es handelt sich um einen Vortrag von Herrn Dr. Schroeder. Wenn ich
richtig informiert bin, geht es in Ihrem Vortrag um das Thema des ganzen
heutigen Tages. Wir haben zwar über Frauen und Jugendliche bereits eine
Diskussionsrunde gehabt, deshalb will ich Sie aber nicht daran hindern, diese
Themen noch einmal aufzugreifen. Ich bitte Sie auch, die letzten vier Kurz-
vorträge und Ihren Kurzvortrag als einen gewissen Diskussionsanstoß für die
nachfolgende Diskussion zu werten. Sie haben die gleiche Zeit wie Ihre Vor-
redner.

PD Dr. Klaus Schroeder: Vielen Dank, Herr Poppe. Sehr geehrte Damen und
Herren, ich bin zu dieser Thematik durch verschiedene Forschungsprojekte
gekommen, die wir seit 1990 an der Freien Universität zum Transformations-
prozeß durchgeführt haben. Ich selber arbeite seit geraumer Zeit an dieser
Universität und leite dort die Arbeitsstelle Politik und Technik und den For-
schungsverbund SED-Staat. Nachfolgend möchte ich über das Thema „Legen-
den und Fakten im Transformationsprozeß“ referieren, wobei ich mich auf ty-
pische Aspekte konzentrieren werde. Ich beschränke mich hierbei auf einige
Thesen, die Ihnen in ausführlicher Form schriftlich vorliegen. Bisweilen werde
ich etwas überpointieren, damit genügend Stoff für die Diskussion bleibt.

Die zentrale These möchte ich vorwegstellen: Der Transformationsprozeß ist
trotz nicht zu übersehender Probleme weiter fortgeschritten und erfolgreicher
verlaufen, als die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion vermuten läßt.
Ich möchte diese These im folgenden kurz begründen.

Erinnert sei zuerst an die Ausgangslage. Dies war der Bankrott der DDR, der
sich als Konsequenz eines schleichenden Niedergangs von Wirtschaft und
Ideologie darstellt, wobei der zweite Aspekt zumeist vergessen wird. In der
Diskussion konzentrieren wir uns ja immer auf den ersten Aspekt. Dieser Zu-
sammenbruch und die nachfolgende Vereinigung kamen sowohl für Politik
und Wissenschaft als auch für die Bevölkerung überraschend, so daß auch kei-
ne Vorstellungen darüber vorhanden waren, wie dieser gewaltige und histo-
risch ohne Beispiel ablaufende Transformationsprozeß konkret gestaltet wer-
den könnte. Er stand von Beginn an unter zwei schweren Hypotheken.

Die erste Hypothek war die erbitterte Gegnerschaft in Ost und West gegen die
Vereinigung überhaupt, insbesondere seitens der Opposition. Die noch größere
Gegnerschaft richtete sich gegen die schnelle Vereinigung, also gegen die Art
und den gewählten Weg des Vereinigungsprozesses. Eine zweite schwere Hy-

411
Wirtschaft – Sozialpolitik – Gesellschaft

pothek bestand darin, daß vor allem die wirtschaftliche Ausgangslage in Ost-
deutschland falsch eingeschätzt wurde. Wenn man es kurz auf einen Punkt
bringen will, könnte man sagen, daß die Produktions- und Beschäftigungs-
struktur der DDR 1989 in etwa das Niveau der Bundesrepublik von Mitte der
60er Jahre hatte. Der Produktivitätsabstand war erheblich. Das Produktivitäts-
niveau der DDR-Wirtschaft erreichte maximal 20-30 % des westdeutschen
Wertes.

Unter diesen Voraussetzungen, die bis heute nachwirken, kommt der Analyse
des Transformationsprozesses eher eine parteipolitische Dimension im Sinne
einer Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition zu, als daß sie
Ergebnis einer nüchternen Betrachtung dessen wäre, was abgelaufen ist.

Die Beurteilungsmaßstäbe haben im Laufe der letzten Jahre zudem rasch ge-
wechselt. Dies gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn man sich die Skepsis und
die Kritik, die heute gerade in breiten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung
vorhanden ist, erklären will. Das westdeutsche System war für den Großteil
der DDR-Bevölkerung immer das Referenzsystem. Es ging nicht um die Ver-
besserung des Lebensstandards im eigenen System, sondern Vorbild war im-
mer das Lebensniveau des westdeutschen Systems. Dieses Referenzsystem war
weniger auf unmittelbare Erfahrung gegründet, sondern medial vermittelt über
Verwandtenbesuche und über Fernsehen, so daß hier auch ein zum Teil fal-
sches Bild von der westdeutschen Realität entstanden ist.

Als zweiten Punkt möchte ich die Alternativen ansprechen. Zum einen ging es
auch bei der Bundestagswahl 1990 um die schnelle Vereinigung mit dem Pri-
mat der raschen sozialen und materiellen Angleichung zwischen Ost und West.
Dagegen stand ein zeitlich gestreckter Vereinigungsprozeß, der stärker die
ökonomischen Dimensionen betonte und den sozialen Angleichungsprozeß
langsamer verlaufen lassen wollte. Bekanntlich hat sich die Mehrheit der Ost-
deutschen für die erste Variante entschieden, nämlich für die Option der
schnellen Angleichung.

Es wurde gerade in Westdeutschland der Eindruck vermittelt, man könne diese
Vereinigung gewissermaßen nebenbei finanzieren, während in Ostdeutschland
die Ansprüche durch die politischen Versprechungen noch gesteigert wurden.
So entstand von vornherein ein Erwartungsniveau, das die Politik später nicht
mehr realisieren konnte. Dennoch muß offen bleiben, ob nicht gerade ein ge-
wisses Maß an „Unbekümmertheit“ der westdeutschen Entscheidungsträger
überhaupt erst schnelle Entscheidungen bewirkt hat, und ob nicht ein nach-
denklicherer Prozeß zu einer Reformen blockierenden Verlangsamung geführt
hätte. Ohne den überschäumenden Optimismus der ersten Stunden und der
damit einhergehenden Unterschätzung der anstehenden Vereinigungs- und
Transformationsprobleme hätten grundsätzliche Entscheidungen und Weichen-
stellungen kaum mit dem Elan und der Entschlossenheit getroffen werden
können, wie es angesichts des objektiven Zeitdruckes notwendig war.