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chen, und hier ist das Saarland ein negatives Beispiel, indem wir weiter sub-
ventionieren, sondern wir müssen Hilfe zur Selbsthilfe, d. h. investive Trans-
ferleistungen erbringen, die es ermöglichen, daß ein sich selbsttragender Wirt-
schaftsaufschwung entsteht.
Es gibt noch ein zweites Versäumnis der Vereinigungspolitik. Das ist die „Ost-
West-Schlagseite“, die von Beginn an angelegt war. Es wäre sinnvoller gewe-
sen, daß gesamtdeutsche Reformbestrebungen, etwa zur Entbürokratisierung,
zum Umbau des Sozialstaates, zur Vereinfachung des Rechtswesens oder zur
Verteilung von Arbeit 1989 in Angriff genommen worden wären. Dadurch
hätte in Ost- und Westdeutschland die Perspektive verstärkt werden können,
daß es sich bei der Vereinigung um ein gesamtdeutsches Projekt handelt, und
nicht nur um ein ostdeutsches Problem, wovon „lästigerweise“ auch Westdeut-
sche betroffen sind.
Jenseits dieser Schwächen der Vereinigungspolitik gibt es allerdings auch eine
selektive und stark verzerrte Wahrnehmung der Vereinigungspolitik. Dieses
Phänomen ist heute von Frau Schenk angesprochen, aber leider nicht beant-
wortet worden. Ich möchte das ergänzen. Es gibt bei fast allen Befragungen
ein eklatantes Mißverhältnis zwischen der Einschätzung der subjektiven Situa-
tion und der allgemeinen Situation. Wenn Sie fragen: „Wie geht es Ihnen wirt-
schaftlich, hat sich Ihre Lage nach 1989 verbessert?“, antworten etwa zwei
Drittel der Personen: „Ja, meine Situation hat sich wirtschaftlich verbessert“.
Stellen Sie dem gleichen Personenkreis die Frage: „Wie ist die wirtschaftliche
Situation allgemein?“, sagt fast ein gleich hoher Prozentsatz, daß die wirt-
schaftliche Situation allgemein schlechter geworden sei. Wir haben dieses Fra-
geschema in einer Umfrage unter Frauen auch auf die Diskriminierung von
Frauen bezogen. Auch hier erhielten wir das erstaunliche Ergebnis, daß 80 %
der Frauen sagten, sie selbst seien als Frau nicht gesellschaftlich benachteiligt
oder diskriminiert, während umgekehrt fast 90 % der Frauen meinten, Frauen
allgemein seien diskriminiert und benachteiligt. Wir haben eine erstaunliche
Differenz, die verdeutlicht, daß die subjektive Lage wesentlich besser ist als
die Stimmung. Die Gründe hierfür können wir in der Diskussion erörtern.
Ich komme zum letzten Punkt, zum Mißbehagen an der Einheit. Dieses Miß-
behagen ist weniger materiell, sondern vor allem sozialpsychologisch bedingt.
Hierbei spielen zwei Aspekte eine Rolle. Der eine Aspekt besteht darin, daß
die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht präzise genug zwischen der Kritik
der Herrschaftsstrukturen und der Darstellung der Lebenswelten differenziert.
Auf diese Weise konnte es vor allem der PDS gelingen, jede Kritik an der
Diktatur als Angriff auf die gesamte DDR-Bevölkerung umzumünzen. Indem
diese falsche Gleichsetzung erfolgt, entsteht in der ostdeutschen Bevölkerung
der Eindruck, sie selbst würde unter Kollaborationsverdacht gestellt und ihre
persönlichen Leistungen würden nicht mehr anerkannt. Sprachliche „Gleich-
macherei“, d. h. undifferenziert verwandte Begriffe sind hierbei besonders
problematisch, weil sie unterschlagen, daß es beispielsweise nicht „die“ Ost-
deutschen, sondern eine Pluralität von Biographien und Erfahrungswerten in
Ostdeutschland gibt. Diese liegen z.T. weiter auseinander als die Erfahrungen
zwischen Ost- und Westdeutschen. Damit meine ich, daß es keine „ostdeut-
schen Sonderwege“ geben sollte, denn die würden nur das zementieren, was
wir verhindern wollen, nämlich das Fort- bzw. Wiederaufleben einer inneren
deutschen Spaltung.
Ich komme jetzt zum Schluß. Als Fazit bleibt mir die Feststellung, daß der
Vereinigungsprozeß erfolgreicher abgelaufen ist, als weite Teile der öffentli-
chen Diskussion nahelegen. Nach Umfrageergebnissen will nur eine kleine
Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung zurück in die DDR. Das will nicht
einmal die Mehrzahl der PDS-Wähler.
Wir sollten nun beginnen, die gewiß nicht zu unterschätzenden Herausforde-
rungen als gesamtdeutsche zu begreifen, und die deutsche Vereinigung auch
einmal als das zu würdigen, was sie letztlich ist: die Befreiung der ostdeut-
schen Bevölkerung von einer Diktatur und die Wiederherstellung der deut-
schen Einheit in einem demokratischen und freiheitlichen Staat, der nicht mehr
nach Sonderwegen trachtet, sondern in das westliche Bündnis und den euro-
päischen Einigungsprozeß eingebettet bleibt. Dies ist viel mehr, als man nach
45 Jahren deutscher Teilung erwarten konnte und relativiert die jetzt auftreten-
den Probleme des Vereinigungsprozesses als vorübergehende Erscheinungen.
Danke.
Gesprächsleiter Abg. Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen
Dank Herr Schroeder. Wir haben jetzt noch eine knappe Stunde für die Dis-
kussion. Es haben sich fast alle hier anwesenden Mitglieder der Enquete-
Kommission zu Wort gemeldet. Ich möchte mir eine Vorbemerkung erlauben:
Thema des heutigen Tages ist die Arbeits- und Sozialpolitik.
Ihre z.T. etwas provokanten Thesen, Herr Dr. Schroeder, sprengen diesen
Rahmen, und es sind Anmerkungen von Ihnen gekommen, über die wir jetzt
sehr lange und sehr heftig diskutieren könnten, die aber nicht zu diesem Thema
gehören. Ich will dazu nur eines sagen, insbesondere zu den Sätzen, die Sie
eingangs brachten, und die auch in Ihrem Papier nachzulesen sind. Ihrer Mei-
nung nach hätte die Regierung Kohl die deutsche Einheit gegen den teilweise
erbitterten Widerstand der westdeutschen Opposition von SPD und Grünen
vollendet. Darüber hinaus steht in Ihrem Material auch die Formulierung „ge-
gen den entsprechenden Widerstand des überwiegenden Teils der Bürger-
rechtsgruppen“.
Ich habe mich immer gegen Legendenbildung gewehrt, auch von der Seite, die
Sie vorhin beschrieben haben, und ich muß sagen, ich wende mich auch gegen
Legendenbildung, wenn sie von einer entgegengesetzten Seite kommt. Ich will
gerne beweisen, aber wir haben nicht die Zeit dazu, den Nachweis zu erbrin-
gen, daß diese Behauptungen falsch sind. Es genügt, vom Zeitpunkt des Falls
der Mauer an, über den Runden Tisch, über die Debatten in der Volkskammer
usw. dies alles aufmerksam zu verfolgen. Genauso muß man auch all das auf-
merksam verfolgen, was im Bundestag, was von der SPD, von den Grünen und