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Ich komme zum Schluß, wir stehen nach wie vor vor weiteren Herausforde-
rungen für Anpassung, Modernisierung und wirtschaftlichen Wandel. Dies
wird nur gesellschaftlich und politisch gelingen, und damit letzten Endes auch
ökonomisch, wenn der Wandlungsprozeß nicht zu einem eiskalten Gegenein-
ander, zu einem Kampf bis aufs Messer führt, sondern, wenn wirtschaftlicher
Wandel begleitet ist von Solidarität, von Miteinander innerhalb der ostdeut-
schen Gesellschaft, innerhalb Deutschlands insgesamt. Ich glaube, daß wir
sehr bald auch feststellen werden, daß der Wandlungsprozeß, die Herausforde-
rung von Modernisierung in Ostdeutschland wie in Westdeutschland, ganz
ähnliche Probleme stellen wird, und daß auch die gesellschaftliche Vereini-
gung in diesem Sinne voranschreiten wird.
Wir haben bewußt für dieses Abschlußpodium den Damen und Herren, die
hier als Referenten eingeladen worden sind, keine Vorgaben gemacht, sondern
wir haben sie gebeten, aus ihrer Sicht darzustellen, wo sie die Probleme sehen,
wo sie auch die Chancen sehen, und was sie für die nächsten Jahre für beson-
ders dringlich halten.
Ich begrüße als erste Frau Rosemarie Keller, die Bezirksleiterin der Gewerk-
schaft Textil und Bekleidung, Bezirk Süd-Ost aus Chemnitz. Ich begrüße ganz
zu meiner linken Herrn Professor Maier von der Universität Bayreuth. Ich be-
grüße Herrn Dr. Lubk vom Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und
Arbeit. Herr Dr. Schmachtenberg vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Ge-
sundheit und Frauen des Landes Brandenburg hat sich verspätet, wir hoffen,
daß er in Bälde zu uns stoßen wird, und ich begrüße Herrn Professor Schmidt,
den Rektor der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mittweida. Ich möchte
Sie bitten, Frau Keller, als erste das Wort zu nehmen.
Rosemarie Keller: Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Damen und
Herren, ich bin vorgestellt worden als die Bezirksleiterin der Gewerkschaft
Textil Bekleidung im Bezirk Süd-Ost. Wenn ich mich hier so umschaue, dann
komme ich mir im Prinzip so vor, wie in einer Gewerkschaftsversammlung,
wo nämlich allenthalben an allen Ecken und in allen Räumen geschimpft wird,
aber wenn es ans Verändern geht, sieht man halt weniger Leute. Vielleicht
liegt das auch daran, daß wir viel zu viel über die Probleme diskutieren, sie
zerreden, anstatt aus der Diskussion heraus, konkrete Wege aufzuzeigen, wie
die Situation zu ändern ist.
Seit Beginn der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sind nunmehr sechs
Jahre vergangen, und in diesen sechs Jahren ist ein riesengroßes Stück Arbeit
in der Textil- und Bekleidungsindustrie Ostdeutschlands und innerhalb der
Gewerkschaften geleistet worden. Um diese Arbeit aber richtig einordnen zu
können, muß man wissen, daß in der Textil- und Bekleidungsindustrie der Pri-
vatisierungs- und Reprivatisierungsprozeß in einem tiefgreifenden und dyna-
mischen Strukturwandel eingebettet war. Der Freistaat Sachsen, der Freistaat
Thüringen und das Land Brandenburg mit ihren ehemals stark von der Textil-
und Bekleidungsindustrie geprägten Regionen sind besonders typische Bei-
spiele der schmerzhaften Anpassung.
Ich darf hier noch einmal die Zahlen nennen. Insgesamt wurden innerhalb von
fünf Jahren 92 % der ehemaligen Arbeitsplätze in der Textil- und Beklei-
dungsindustrie vernichtet. Von ehemals rund 330.000 Beschäftigten sind Ende
1996 gerade mal 21.600 Arbeitnehmer in 330 Klein- und Mittelständischen
Unternehmen übriggeblieben. Über 300.000 Arbeitnehmer, von denen fast
80 % Frauen waren, haben ihren Arbeitsplatz verloren. Verantwortlich für die-
sen wirtschaftlichen Kollaps in der Textil- und Bekleidungsindustrie waren
sicher viele Gründe, von denen ich nur einige wenige hier noch einmal nennen
möchte, die allerdings für Kettenwirkung gesorgt haben.
Mit der Währungsunion brach der Ostmarkt völlig zusammen. Hier vor allem
der Markt der RGW-Länder, ein Warenaustausch im Konsumgüterbereich war
de facto nicht mehr möglich, und durch die nahezu vollständige Hinwendung
der einheimischen Bevölkerung zu Produkten aus alten Bundesländern und
Westeuropa ging der Binnenmarkt ebenfalls in die Brüche. Vor der Wieder-
vereinigung der beiden deutschen Staaten war der westeuropäische Markt ein
Eldorado für den Handel von Ostprodukten zu extrem niedrigen Preisen. Mit
den nunmehr in DM zu rechnenden Kosten und daraus resultierenden höheren
Preisen wollten die früheren Hauptabnehmer unsere Produkte nicht mehr neh-
men. Das Billigimage, das unseren Waren ungerechtfertigter Weise anhing,
bewirkte ein übriges. Ich denke, es wäre zu einfach, alle derzeitigen Probleme
in der Wirtschaftspolitik der neuen Bundesländer den Folgen der SED-Diktatur
zuzuschreiben. Transformationsprozeß kann nur als demokratischer Prozeß
fungieren.
Die Treuhandpolitik stülpte allerdings Maßnahmen über, Sozialpartner wurden
zwar gehört, aber ihre Meinung kaum beachtet. Der nach unserer Meinung
schwerwiegendste politische Fehler, auf den wir als Gewerkschaften von An-
fang an aufmerksam machten, und dessen Auswirkungen heute noch nach
sechs Jahren deutlich sichtbar sind, war die Festlegung der Treuhandpolitik,
die Betriebe unsaniert zu privatisieren. Die Betriebe unserer Branchen waren
in Folge des hohen Verschleißes nicht mehr wettbewerbsfähig. Die privati-
sierten Betriebe wurden unsaniert auf den Markt entlassen. Dieser entschei-
dende Wettbewerbsnachteil brachte nach anderen Widrigkeiten nach längerem
oder kürzerem Kampf, das Ende für viele Unternehmen und bringt es heute
noch. Viel zu oft erhielten darüber hinaus spekulierende Käufer, die nicht an
der Produktion, sondern an den Immobilien interessiert waren, den Zuschlag.
Potentielle Käufer aus den neuen Bundesländern wurden dagegen auf Herz
und Nieren geprüft, viel umfangreicher als westliche Interessenten auf ihre Fä-
higkeiten und vor allem auf ihre Kreditwürdigkeit geprüft. Ich habe an anderer
Stelle einmal gesagt, ein westdeutscher Investor braucht nur in eine Bank zu
gehen und „Grüß Gott“ zu sagen, und da hat er im Prinzip schon den Kredit
halb in der Tasche.
Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Hemmnis für die Weiterführung von
Betrieben waren die oft ungeklärten Eigentumsverhältnisse. Und trotz des so-
zialen Dialoges, der fast ausschließlich von den Gewerkschaften ausging, aber