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fellos bieten, nicht gewahr sind und diese nicht in Anspruch nehmen, sind sie,
so behaupte ich, noch im Dunstkreis DDR-spezifischer Indoktrination verblie-
ben. Indoktrination wirkt dann trotz Alternative fort. Forschungen hierzu, die
dem Vorurteil und der Spekulation Einhalt gebieten könnten, sind weder zahl-
reich noch abgeschlossen, so daß ich am Ende gezwungen sein werde, zu
spekulieren, allerdings hoffnungsfroh.
Am Ende der DDR gab es in ihr etwa 185.000 Lehrerinnen und Lehrer; 1992,
nachdem die Schulstrukturreform gegriffen hatte, wurden in Ost-Berlin und
den neuen Bundesländern noch 155.000 gezählt. Der Schwund der Lehrer-
schaft hatte unterschiedliche Gründe und wurde in den einzelnen Bundeslän-
dern unterschiedlich gehandhabt. Aber darum geht es hier nicht. Fakt ist, bitte
nehmen Sie das als eine Tatsachenaussage zur Kenntnis, daß die meisten
Lehrer noch arbeiten. Man darf hoffen, daß die wirklich üblen Einpeitscher
nicht mehr im Schuldienst sind, aber denen dürfte, weil sie abstoßend genug
waren, Indoktrination ohnehin kaum gelungen sein. Neue Lehrer wurden kaum
eingestellt. Ost-West-Durchmischungen der Kollegien, wie in Berlin versucht,
spielen keine Rolle. Folgenreich aber war eine andere Art von Durchmischung.
Im Zuge der Schulstrukturreform wurden die alten Kollegien der POS und
EOS weitgehend aufgelöst und an den verschiedenen neuen Schultypen in
weitgehend neuer Zusammensetzung neu konstituiert. Das war weniger eine
Chance für einen neuen Anfang als vielmehr eine Chance für ein stilles, unauf-
fälliges Ende. Man konnte so tun, als hätte es ein Vorher nicht gegeben, und
wenn es ein Vorher gegeben hatte, war es plötzlich nicht mehr der Rede wert,
und wenn es der Rede wert war, dann um zu belegen, daß man auch etwas
geleistet hat. Die zwei, drei Jahre währende Zwischenzeit war die Zeit der
großen Konfusionen. Dienstherr, Schulrecht, Stoff waren neu und mußten neu
verstanden werden, die Schüler kannte und unterrichten konnte man. Angst um
berufliche Fortexistenz überlagerte pädagogische Reflexion, sofern überhaupt
pädagogisch reflektiert wurde. Nach drei Jahren Verwirrung kamen, so scheint
es, die Lehrer langsam wieder zur Ruhe und richteten sich neu ein.
These acht: Gegen die häufig zu vernehmende Forderung „Laßt uns endlich in
Ruhe pädagogisch arbeiten, um der Kinder willen!“ ist um der Kinder willen
einzuwenden: „Nichts is’, wenn Ihr in Ruhe pädagogisch arbeitet, arbeitet Ihr
doch nur so, wie Ihr es gewohnt seid.“ Lehrer müssen zur Reflexion ihres
pädagogischen Tuns und zur Wahrnehmung pädagogischer Freiheit provoziert
werden. Die Schulen dürfen jetzt nicht zur Ruhe kommen, und wenn sie schon
zur Ruhe gekommen sind, müssen sie gestört werden. Aber wer soll provozie-
ren, stören? Die Administration kann hierbei höchstens Fortbildungskurse
organisieren, aber bitte solche, die intellektuell fordern; Selbsterfahrungskurse
nach dem Motto „Tanz’ uns Deinen Namen“ scheinen – jedenfalls mir – wenig
geeignet. Nicht Psychotherapie, sondern Analyse ist gefragt. Nicht Betroffen-
heit ist gefragt, sondern ein analytischer, selbstreflexiver Begriff vom Umgang
mit Meinungen, Auffassungen, Theorien, Ideologien und Weltanschauungen.
Die Öffentlichkeit, hier vor allem die Eltern, aber auch die Medien, müssen der
Provokateur sein. Klarheit sollte aber von vornherein darüber herrschen, und
diese Klarheit wäre dann eine allerdings positiv gewendete Indoktrinationser-
fahrung, daß niemand gezwungen werden kann, Freiräume wahrzunehmen,
und daß das Ergebnis der Reflexion vom Reflektierenden und nicht vom Pro-
vokateur bestimmt wird.
Ich komme zur letzten These: Reflexion braucht Muße. Solange die Lehrer ihre
Kraft darin erschöpfen, den Lehrinhalten, dem Schulrecht und der Bürokratie
gerecht zu werden, reaktivieren sie notwendigerweise stereotype Verhaltens-
muster. Erst wenn sie nicht nur provoziert werden, sondern auch Muße finden,
über sich, die Schüler, den Unterricht zu reflektieren, das heißt, sich, die
Schüler, den Unterricht nicht aus der gewohnten, sondern aus neuen Perspekti-
ven zu bedenken, können sie sich ihrer subjektiven Theorien über ihr pädago-
gisches Handeln bewußt werden und darüber entscheiden, ob sie dieses ändern
und anders handeln wollen. Das Paradoxon lautet: Die ehemaligen DDR-
Lehrer dürfen nicht in Ruhe gelassen, ihnen muß aber Muße gewährt werden.
Auch wenn das folgenlos bleiben sollte, so meine hoffnungsfrohe Schlußbe-
merkung, bleibt die Schule doch das, was sie immer schon war: eine Instituti-
on, an der nicht verhindert werden kann, daß das Lernen und das Denken
gelernt werden. (Beifall)
Vorsitzender Siegfried Vergin: Vielen Dank, Herr Dr. Fischer, für dieses
spannende und sehr analytische Referat. Ich gebe jetzt die Leitung an den
Sachverständigen in der Enquete-Kommission Prof. Dr. Clemens Burrichter
weiter, der das Podiumsgespräch leiten wird.
Gesprächsleiter Prof. Dr. Clemens Burrichter: Schönen Dank, Herr Vorsit-
zender. Meine Damen und Herren, wir haben in der Vorbereitungsgruppe für
diese Anhörung immer wieder versucht, es nicht zur reinen Männer-Veran-
staltung werden zu lassen. Ich freue mich ganz besonders, daß heute am Podi-
um auch eine Dame sitzt. (Beifall) Ich darf als erste Frau Maja Sommer begrü-
ßen. Sie hat im Frühjahr 1993 an der Landesschule Pforte ihr Abitur gemacht
und im Herbst 1993 mit dem Studium an der Rechtswissenschaftlichen Fakul-
tät in Jena begonnen; sie wird uns also über ihre Erfahrungen in der Schule
Auskunft geben. Ich gehe dann in der alphabetischen Reihenfolge vor und
begrüße als nächsten Herrn Karl Büchsenschütz. Herr Büchsenschütz hat 1963
in der Odenwaldschule das Abitur gemacht; anschließend Studium von Ger-
manistik, Geschichte, Politik, Pädagogik und Philosophie an der Universität
Frankfurt/Main und an der Freien Universität Berlin, ab 1971 zehn Jahre Leh-
rer an der Odenwaldschule, Ausbilder für Lehrer am Gymnasium, 1984 bis
1992 Leiter einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Hessen und seit
September 1992 Direktor der Landesschule Pforte, ebender Schule, an der Frau
Sommer gewesen ist. Ich begrüße dann in diesem Kreise Herrn Professor
Hans-Peter Schäfer. Er hat sein Studium in Hamburg, Tübingen und Bochum
durchgeführt, seit 1974 ist er Professor für Erziehungswissenschaften am
Institut für Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg,