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barschaft gegeben – so lautet das, wenn nicht allgemeine, so doch weit ver-
breitete Urteil.
Und wie alle Legenden hat auch diese einen durchaus rationalen Kern. Die
DDR war tatsächlich das Land der Freundschaften, der Freunde, der Arbeits-
kollegen; Bekannte und Verwandte gehörten zu den Überlebensstrategien der
DDR. Da das Leben insgesamt immobil, abgeschottet, statischer war, blieben
auch Freundes- und Bekanntenkreise über Jahre hinweg stabil. Gegenseitige
Hilfe war ein Gebot des Alltags. Um zum Anfangsbeispiel zurückzukommen:
Der eine stand beim Bäcker an, der andere stellte sich beim Fleischer an, der
dritte ging schon mal zum Gemüseladen, und selbst beim Besuch der Kauf-
halle ging man möglicherweise mit mehreren Kindern diese Aktion an – einer
stellte sich schon mal an der Kasse an, der nächste ging zum Fleischstand, der
dritte zum Käsestand usw. So war denn der Alltag voller Gemeinschaftserleb-
nisse, voller Erfolgserlebnisse und Abenteuer, denn letztendlich war auch der
Erwerb der 50 Schrippen für das Wochenende ein kleines Abenteuer, ein klei-
ner gemeinschaftlicher Erfolg, und so ist ein Gemeinschaftsbewußtsein ent-
standen. Als schließlich die DDR verschwand, wurde die DDR-Identität gebo-
ren. Als analog dem Ende des planwirtschaftlich bedingten Mangels an Back-
waren die Schlangen vor den Bäckerläden usw. verschwanden, wurde die Ost-
schrippe geboren; sie wurde zum Symbol der untergegangenen DDR-
Gesellschaft. (Beifall)
Vorsitzender Siegfried Vergin: Vielen Dank, Herr Dr. Wolle, für diesen lok-
ker machenden Vortrag. Herr Prof. Dr. Burrichter hat jetzt die Aufgabe, uns
durch ein Podiumsgespräch zu führen mit Frau Prof. Dr. Hanna Haack, Prof.
Dr. Wolf Krötke, Ehrhart Neubert, Prof. Dr. Schlosser und Herrn Wolfgang
Templin.
Pause bis 14.40 Uhr
Gesprächsleiter Prof. Dr. Clemens Burrichter: Meine Damen und Herren,
ich möchte die abschließende Sitzung eröffnen und darf noch einmal auf
Grund der Diskussionsbeiträge im ersten Teil dieser Runde, in der mit Recht
darauf hingewiesen wurde, daß es nicht die DDR-Identität gebe, darauf hin-
weisen, daß das Programm dieser Anhörung lautet: „Identitäten in der DDR."
Wir sind natürlich davon ausgegangen, daß es nicht die DDR-Identität gab,
man sollte das dann entsprechend auch zur Kenntnis nehmen.
Im Unterschied zu den bisherigen Moderatoren erlaube ich mir doch, zu Be-
ginn noch einiges Inhaltliche zu sagen, auch wenn die Zeit knapp ist. Ich ver-
zichte dabei auf eine ausführliche Vorstellung der Damen und Herren hier im
Podium. Ich darf nur kurz vorstellen Frau Prof. Hanna Haack aus Rostock.
Herrn Prof. Dr. Wolf Krötke von der Humboldt-Universität zu Berlin, Herrn
Ehrhart Neubert aus Berlin – ich glaube, ich brauche ihn sowieso nicht vorzu-
stellen, da er durch seine Tätigkeit hinreichend bekannt ist. Prof. Horst Dieter
Schlosser ist Professor für deutsche Philologie und arbeitet seit 1980 regelmä-
ßig an Forschungsprojekten zur deutschen Sprache in Ost und West, und
Wolfgang Templin, glaube ich, brauche ich im einzelnen hier auch nicht vor-
zustellen.
Zum Inhaltlichen: Ich darf daran erinnern, daß Ilko Kowalczuk gestern in ei-
nem Diskussionsbeitrag angemahnt hat, daß wir unsere Diskussionen und un-
sere Analysen in diesem Zusammenhang vielleicht auf sechs Fragen konzen-
trieren sollten, und ich wage diese sechs Fragen noch einmal vorzutragen mit
der Bitte an das Podium, die eine oder andere Frage dann im Statement oder in
der Diskussion zu berücksichtigen. Folgende Fragen wären es:
1. Welche Spielräume für eine individuelle Gestaltung des Lebenslaufs waren
in der DDR vorhanden und möglich?
2. Welches waren die wichtigsten Sozialisationsinstanzen in der DDR im
Vergleich zu denen in der Bundesrepublik?
3. Wie erfolgreich oder wie erfolglos war der ideologische Versuch der Erzie-
hung zur „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“?
4. Gab es Möglichkeiten, sich den geplanten und verplanten Sozialisations-
mustern in der DDR zu entziehen?
5. Welche Sozialisationstypen erwiesen sich nach 1989 als besonders hand-
lungsfähig, welche versagten angesichts der revolutionären Ereignisse und ih-
rer Folgen und welche zeichneten sich durch restaurative Beharrungstenden-
zen aus (wie ich glaube, eine sehr wichtige Frage, auch in dieser Dreitypisie-
rung)?
6. Inwiefern existieren noch heute Unterschiede in der Sozialisation in Ost-
und Westdeutschland, welche Konsequenzen hätte das?
Soweit einige, wie ich meine, in der Tat Schlüsselfragen. Und da ja diese
Kommission auf der Basis dessen, was hier diskutiert wird, und weiterer Ex-
pertisen am Ende einen Bericht vorlegen soll, sind wir gut beraten, wenn wir
von Ihnen schon Hilfe und Mitwirkung erhalten bei der stärkeren Präzisierung
eines Themas, das durch die Begriffe „Identität“ und „Sozialisation“ bisher
noch unter einer babylonischen Sprach- und Begriffsverwirrung gelitten hat,
was allerdings nicht notwendig so weiter verlängert werden muß. Ich darf da-
mit die Runde hier oben eröffnen und übergebe zunächst entsprechend dem
Programm Frau Prof. Haack das Wort.
Prof. Dr. Hanna Haack: Meine Damen und Herren, ich muß zur Biographie
hinzufügen: Ich habe lange in Rostock gelebt und gearbeitet, arbeite aber – das
ist vielleicht interessant für diejenigen, die aus einer wissenschaftlichen Ein-
richtung kommen, die abgewickelt worden ist – seit 1992 mit Zeitverträgen an
verschiedenen westdeutschen Universitäten und bin derzeit an der Universität
Bremen tätig.
Identitätsveränderungen nach dem Untergang der DDR, dies ist weniger als
andere Themen meines Erachtens ein ausgesprochen historisches Thema. Wis-