Fehler melden / Feedback
fortgesetzt wird, die Täter sich zurückziehen können, die Opfer sich in ihrer
Opferrolle festmachen und festmachen müssen. Kann es möglich werden, daß
so etwas wie eine Täter-Opfer-Konfrontation mindestens überall dort passiert,
wo Täter von gestern, die ja manchmal auch Täter von heute sind, in gesell-
schaftlich einflußreichen Positionen sitzen, wo Menschen Lebensorientierung
bekommen oder wo über Gemeinschaften, ihren Charakter und ihre Zukunft
entschieden wird. Kurz, ich wünschte mir, daß wir über die Ziele des Aufar-
beitungsprozesses sehr schnell zu sprechen und zu streiten beginnen und daß
das Wort Heilung darin einen Platz gewinnt. Wenn es weniger als dies wird,
werden wir noch sehr, sehr lange mit dem Aufarbeitungsprozeß zu tun haben.
Ich danke Ihnen.
(Beifall)
Gesprächsleiter Abg. Markus Meckel: Herzlichen Dank, Curt Stauss. Auf-
arbeitung von Vergangenheit, jedenfalls von einer solchen Vergangenheit, die
wir im Blick haben, ist in einer pluralistischen Gesellschaft ein streitbarer und
auch widersprüchlicher Prozeß. Es gibt kein Monopol auf Wahrheit, auch in
dieser Frage nicht, und ich denke, bei manchem, das Curt Stauss angesprochen
hat, gibt es auch den Bedarf zu reagieren und miteinander ins Gespräch zu
kommen. Dazu soll die Möglichkeit sein. Zuerst haben die drei, die hier im
Podium sitzen und nun im Anschluß kurz zu diesen Herausforderungen reden
werden, dazu die Gelegenheit.
Generalsuperintendent in spe Martin Michael Passauer: Er war Mitglied der
letzten Enquete-Kommission und langjährig Pfarrer in Berlin. Er ist mit vielen,
die aus der Opposition der DDR auch heute in den Fragen der Aufarbeitung
aktiv sind, seit langem verbunden. Anschließend redet dann Jörn Mothes.
Auch er war in den 80er Jahren aktiv in dem, was man heute etwas pauschal
Opposition der DDR nennt, und ist heute stellvertretender Landesbeauftragter
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in
Mecklenburg-Vorpommern. Als letzter dann Herr Dr. Rainer Eckert. Er ist
Gründungsmitglied der Unabhängigen Historikerkommission und auch in den
letzten Jahren durch viele pointierte Beiträge zum Aufarbeitungsprozeß in der
Öffentlichkeit hervorgetreten. Ich bitte alle drei in ihren Beiträgen die Grenze
von 10 Minuten möglichst nicht zu überschreiten. Wenn es drunterbleibt, wer-
den nicht alle böse sein. Martin Michael Passauer bitte.
Martin Michael Passauer: Ich bedanke mich und will drei Gedanken meiner-
seits nochmal unterstreichen, an denen sich die Fragen der Herausforderung
noch einmal deutlich zeigen. Bevor ich die drei Dinge nenne, möchte ich gerne
noch eine Binsenweisheit erwähnen, denn diese Binsenweisheit ist eine der
wichtigsten Herausforderungen: Die Binsenweisheit, daß durch Erinnerung
und Erinnern Erneuerung passiert, d. h. auch wenn viele von uns der Meinung
sind, an manchen Stellen hätten wir schon genug getan oder geredet, manche
Themen hätten wir schon genug reflektiert, manche Fragen hätten wir schon
ausreichend behandelt, wir sollten jetzt zu anderen Dingen übergehen, halte
ich dies für falsch. Ich denke, daß wir gerade durch die Erinnerung und auch
durch das Erinnern, was schon andere getan oder gedacht haben, auch denen
helfen, die das Gefühl haben, daß eigentlich noch nicht sehr viel passiert ist.
Denn bei Lichte besehen ist der Aufarbeitungsprozeß an vielen Stellen schon
in erheblichem Maße im Gange, und auch dieses nochmal deutlich und öffent-
lich zu machen, lohnt sich zu erinnern.
Der erste Punkt, den ich gerne noch einmal unterstreichen würde als eine Her-
ausforderung des Aufarbeitungsprozesses, ist das, was ich mit den Folgen der
Diktaturschäden beschreiben möchte. In meinem Umfeld – und ich bin, wie
gesagt, seit vielen Jahren in Berlin tätig – gibt es in erheblichem Maße Folgen
der Diktaturschäden. Ich würde sie einmal darin sehen, daß bestimmte
menschliche Werte in zunehmendem Maße pervertiert werden, also das, was
man mit dem schlichten Wort „Geborgenheit“ oder „Heimatgefühl“ oder „An-
genommensein“ beschreiben würde, verändert sich in Existenzangst und in ei-
ne innere Unruhe.
Das zweite, was aus meiner Sicht für jede gesunde Demokratie geradezu le-
benserhaltend ist, das ist der Innovationsgeist. Dieser Innovationsgeist verän-
dert und verkehrt sich an vielen Stellen in eine Depressionshaltung. Und da,
wo wir von Werteerhalt gerne reden würden, nicht nur menschlicher Werte,
sondern auch Werte unserer Schöpfung, kommt es zunehmend zu einem Wer-
teverlust. Deshalb halte ich es für eine unabdingbare Herausforderung des
Aufarbeitungsprozesses, diese Demokratieunempfindlichkeit, dieses fehlende
Demokratiebewußtsein, die Regression in autoritäre Strukturen als erstrebens-
wertes Kindheitsmuster unbedingt zu unterbrechen. Ich sehe darin die eigentli-
che Gefährdung unseres gesellschaftlichen Lebens, denn in vielen Bereichen,
gerade bei jüngeren Leuten, hat diese Demokratieunempfindlichkeit als eine
Folge der Diktatur immer noch verheerende Auswirkungen. Deshalb wäre aus
meiner Sicht eine ganz wichtige Aufgabe für alle hier Beteiligten, sowohl für
die Institutionen als auch für die Politik, die befreienden Spielregeln der De-
mokratie erlebbar zu machen.
Der zweite Punkt, da verstärke ich noch einmal, was Curt Stauss schon gesagt
hat: Das Thema Recht und Gerechtigkeit ist ja ein Dauerthema, aber weil es
ein Dauerthema ist, muß es immer wieder genannt werden. Die Spannung von
der Gebundenheit des Rechtes an eindeutige und weitgehend objektive Maxi-
men und Kriterien, diese Spannung zur Gerechtigkeit als Stärke im eigenen
Empfinden, als eine der eigenen Befindlichkeit zuzuordnende Größe, diese
Spannung ist die bleibende Zerreißprobe innerhalb unseres Lebens. Die wen-
debedingten Gerechtigkeitsprobleme bleiben, die empfundene Ungleichheit,
die empfundene Umverteilung von Besitz, die empfundenen Transferleistun-
gen zu Ungunsten der Menschen, die empfundenen Verluste, was die eigene
Bodenhaftung anbelangt und die Balance zwischen den moralischen und
nichtmoralischen Kriterien des Umgangs miteinander. Deshalb sehe ich politi-
sche Möglichkeiten in der weiteren Diskussion, die Sie als Politikerinnen und
Politiker behandeln müssen. Es ist, denke ich, immer wieder die Frage zu be-
antworten: Besteht ein Anspruch auf Hilfe gegenüber den ehemals Ostdeut-