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Wahlperiode 13, Band VII, Seiten 894 und 895
894
Protokoll der 49. Sitzung

Unsere Vorfahren haben einander totgeschlagen, um eine einzige, erlösende
Deutung der Dinge als futuristisches Objekt zu installieren. Es gab Erwähltheit,
erwählte Klassen und Rassen, romantische Schicksalsgemeinschaften, ein Wir-
gefühl, das zu einem krankhaften Ego wurde. Es kamen der Übermensch, der
sich selbst erwählte, und der neue Mensch, der vorgab, den Plan der Zukunft er-
kannt zu haben. Sie liegen zwar danieder, aber das ewig selektive Gedächtnis
bewältigt die Vergangenheit auch aus dieser unteren Lage. Es relativiert die Op-
fer und verkleinert die Täter. Diese Art der Mnemotechnik erreicht so ihr wich-
tigstes Ziel: die Mißachtung der Gegenwart im Ganzen, ihr Austrocknen als
Quelle des einzig produktiven Zukunftsgewinns. Die Vergangenheit wird dabei
zur kollektiven Neurose.

Gibt es aber außer den Ausgrenzungsritualen und Ansprüchen der Ausschließ-
lichkeit eine Vergangenheit, deren Früchte nicht jugoslawisch schmecken? Mit
anderen Worten: Gibt es eine Handhabung der Vergangenheit, die das eigene
Selbst, das Idol der Kollektivität, ständig relativiert, und zwar mehr, als daß sie
danach sucht? Gibt es eine Handhabung, in der das Fiktive und das Faktische
sich aneinander abstimmen, in der nicht das Futur oder das Perfekt entscheiden?

In unserer Welt, in der die Notierungen ständig zunehmen, wird die Vergangen-
heit „repräsentiert“ durch das Faktische, wird sie als eine Art komplexer Fakto-
graphie denkbar, und nur so. Wenn man eine totalitäre Herrschaft beschreiben
will, um ihre Mechanismen zu entschlüsseln und somit deren Wiedereinsetzung
vermeidbar zu machen – so etwa könnte man unseren Zweck definieren –, so
müssen wir, sollten wir eine Atmosphäre schaffen, in der die Gebrochenen nicht
stärker in die Verantwortung genommen werden als die Brecher. Denn das Ver-
brechen des Brechens ist die Causa; deren Vermeidung ist nur durch das Verste-
hen der Gebrochenen zu erreichen.

Die Ehrfurcht vor der Gegenwart, vor dem Lebenden hier und heute wird ge-
braucht. Eine Gruppe, die die Vergangenheit bewältigt und nicht vergewaltigt,
ist sich der Ambivalenz zwischen Fiktivität und Faktizität bewußt. Das Wirge-
fühl einer solchen Gruppe baut auf diesem unmarkierten Übergang zwischen den
beiden Bereichen eine dialogische Brücke, auf der verglichen und gemessen
wird. Nur so entstehen keine Dichter der Ethnogenese, keine Sinnstiftungshisto-
riker des jeweiligen heiligen Ursprungs, Vergangenheitsanbieter, die die Zukunft
versperren, Führer, die die Identität durch Teilnahme an einer kollektiven Untat
garantieren; diese Art der Identitätsbeschaffung und der Vergangenheitsbewälti-
gung ist die älteste. Komplizen sind treu; fragen sie einmal in Bosnien!

In der Annahme, daß Prüfungen noch kommen, bin ich an keiner Weltengangs-
wisserei interessiert. Ich suche nach keinem neuen Namen für das große oder
reine Einst. Ich übe die Kunst des Vergessens, indem ich leise erinnere, indem
ich dem Gedächtnis helfe, die Schwelle zur Schmerzlosigkeit zu übertreten.

Darum habe ich dankbar die Einladung zu dieser Tagung angenommen.
Deutschland leistet hier eine Elementararbeit. Geteilt, vereint, die doppelte tota-
litäre Vergangenheit erlitten, Vernichtung, Vertreibung verursacht und erlebt, ist

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Vergangenheitsaufarbeitung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa

es heute der einzige Boden, auf dem eine entwickelte Rechtsstaatlichkeit einer
implodierten Diktatur begegnet. Teilung und Heilung hängen hier zusammen.

Als ich eingangs die Gegenwartsbewältigung zu einer Conditio sine qua non je-
des unseres Erfolgs auf dem Minenfeld unserer Vergangenheiten machte, dachte
ich natürlich an die Ergebnisse Ihrer Kommission, an die Arbeitsprogramme, in
denen das leise Erinnern methodisch zum Ausdruck kommt. Davon verspreche
ich mir sehr viel für mein Land. Ich wage zu behaupten, daß Ähnliches auch für
die anderen Eingeladenen gilt oder gelten könnte. Denn erst auf dieser Basis se-
he ich eine Zähmung der Vergangenheit – das ist unser eigentliches Thema – als
möglich an.

(Beifall)

Vorsitzender Rainer Eppelmann: Herzlichen Dank, lieber verehrter Jirí Gruša.
Wir kommen damit zum Komplex Einführungsvorträge. Wir waren der Mei-
nung, wir sollten uns darin dem Thema stellen: Ist die Aufarbeitung der Vergan-
genheit eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Etablierung von Demo-
kratie und Rechtsstaat? Wir haben eine Frau und einen Mann gebeten, uns etwas
dazu zu sagen. Danach wollen wir miteinander ins Gespräch kommen. Ich
möchte den Mann kurz vorstellen: Professor Richard Schröder, geboren 1943 in
Sachsen; Studium der Theologie und Philosophie an den Kirchlichen Hoch-
schulen in Naumburg und Berlin; Pfarrer im Harz; danach Dozent für Philoso-
phie an den beiden Kirchlichen Hochschulen, die es in der DDR gab; 1990 Mit-
glied der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer und danach des Bun-
destages; seit Frühjahr 1991 Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät der
Humboldt-Universität hier in Berlin; im Februar 1993 Berufung auf den Lehr-
stuhl für Philosophie in Verbindung mit Systematischer Theologie an der Theo-
logischen Fakultät in Berlin; seit 1993 Verfassungsrichter im Land Brandenburg;
dann – was Sie möglicherweise überrascht, zumindest hat es mich überrascht –
seit 1995 Vorsitzender des Kuratoriums der Expo 2000. Wir sind gespannt, was
du zu sagen hast, Richard.

Prof. Dr. Dr. h. c. Richard Schröder: Meine Antwort auf die vorgelegte Frage
lautet: Ja. Aber ich glaube nicht, daß Sie mich damit schon entlassen wollen.
Denn nun stellen sich weitere Fragen: Warum? Und was? Und wie? Diese will
ich zu beantworten versuchen.

Ich werde mich dabei im wesentlichen an den Verhältnissen und Problemen in
Deutschland orientieren, weil diese Fragen nicht im Ideenhimmel der Abstrak-
tion diskutiert werden können. Das Allgemeine oder Gemeinsame, das Staaten in
einer vergleichbaren Situation betrifft, mag sich dann durch den Vergleich der
Erfahrungen herausstellen.

Es geht uns heute und hier um die Aufarbeitung kommunistischer Diktatur. Ich
will darauf hinweisen, daß auch dies nur ein Ausschnitt einer noch größeren
Problematik ist. Es gibt und gab andere Diktaturen, nach deren Ende sich ähnli-
che Fragen stellen: Griechenland, einige südamerikanische Staaten, Spanien,