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Wahlperiode 13, Band VIII/1, Seiten 94 und 95
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Protokoll der 34. Sitzung

rungsverlust ist zweifellos da. Der Orientierungsverlust hat aber natürlich auch
eine existenzielle Komponente, und die dürfte im wesentlichen darin bestehen,
daß mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland nun so viele
berufliche Biografien entwertet worden sind, so viel verloren gegangen ist von
dem, was Menschen zunächst einmal gewesen sind in ihrem eigenen Selbst-
verständnis. Gerade die berufliche Orientierung spielte für die Menschen im
Osten eine sehr große Rolle, eine noch größere vielleicht als im Westen. Dies
ist nun zusammengebrochen, und Ratlosigkeit ist auch da die Folge. Denn Be-
ruf und Sozialität waren weitgehend identisch. Beruf und Arbeitsstelle waren
der Ort sozialer Kommunikation. Andere soziale Kommunikation über Familie
und Verwandtschaft hinaus gab es kaum und war auch von der SED weitge-
hend zerstört worden. Das sind die beiden wesentlichen Momente des Orien-
tierungsverlustes im Osten.

Im Westen hingegen ist, ohne daß ich es hier groß darlegen muß, in der Wohl-
standsgesellschaft ein ständiger Trend zur Individualisierung entstanden, zur
Entsolidarisierung. Die persönliche Freiheit wurde weitgehend verstanden als
eine Freiheit von Bindungen, eine möglichst große Freiheit von Verpflichtun-
gen, ohne daß eine Antwort gegeben werden mußte und auch danach gefragt
wurde, wozu eigentlich Freiheit da ist. Die Erlebnisgesellschaft ist entstanden,
Hedonismus, diese Schlagworte kennen Sie alle, die brauche ich nicht auszu-
führen. Damit einher ging eine Diversifizierung der geistigen Einstellungen.
Damit verlor der geistige Ort der Menschen an Bedeutung. Er wurde jedenfalls
relativiert. Für mich als Studienleiter ist das ganz besonders deutlich gewor-
den, als ich für mich ziemlich überraschend auf einen Konsens stieß: Auf die
Frage, was denn nun eigentlich richtig sei, wonach denn nun eigentlich zu fra-
gen sei, wurde mir gesagt: Wahrheit, wie bitte? Wahrheit gibt es doch gar
nicht! Es gibt nur Interessen. Wahrheit ist ideologieverdächtig. Das scheint
mir, und so ist es mir entgegengekommen, ein gesellschaftlicher Konsens in
der Wohlstandsgesellschaft zu sein. Ansichten interessieren nicht, man hört
sich nicht zu, was zählt, sind die Interessen. Und die sollte man möglichst nach
demokratisch geregelten, allgemein akzeptierten Verfahren austragen. Dafür
haben wir ein sehr gutes Modell in der Bundesrepublik gefunden. Ebenso wie
dieser Relativismus der geistigen Einstellungen ist es zu einem Relativismus
der beruflichen Orientierungen gekommen, das wissen Sie alle. Statt Beruf
sind wechselnde Jobs gefragt. Diese Anforderung der Mobilität und der Flexi-
bilität ist ja schon viel früher an die Menschen im Westen herangetragen wor-
den als im Osten. Und dann fragt man sich, was eigentlich als Lebensorientie-
rung bleibt, und man kommt zu der Antwort, es bleibt nichts anderes, als mög-
lichst mehr Geld zu verdienen. Das ist die Orientierung, die bei dieser Relati-
vierung dann übrig bleibt.

Diese Prozesse werden von der Soziologie meistens als Modernisierungspro-
zesse beschrieben. Die Menschen im Osten stehen jetzt da als diejenigen, die
vergleichsweise unmodern sind. Ist denn die Antwort nun, daß sie sozusagen
eine nachholende Modernisierung zu leisten haben? Ja, das ist offenbar die
Anforderung, die an sie gestellt wird. Aber das geschieht im gleichen Moment,

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Wechselseitige Wahrnehmungen und ihre Nachwirkungen

wo eben diese postmoderne westliche Gesellschaft spätestens seit 1992 zur
Kenntnis nehmen muß, daß sie nicht nachhaltig und damit nicht zukunftsfähig
ist. Nun kommen die Ossis und fragen: Was stimmt denn nun eigentlich? Die-
se Frage hat Frau Becher schon einmal gestellt, wenn auch mit einem anderen
Akzent, und als eine typische Ostfrage in die Debatte geworfen. Ich denke, daß
es doch viele Menschen im Osten gibt, die sie ernsthaft stellen ohne zu erwar-
ten, daß ihnen die Antwort von anderen vorgegeben wird. Nein, sie fragen
immer noch ernsthaft danach, während im Westen weiterhin nicht mehr ernst-
haft danach gefragt wird, weil sie meinen, daß es die Wahrheit eigentlich gar
nicht mehr gibt. Da meine ich, daß dieser Modernisierungsrückstand der Ossis
vielleicht im Grunde genommen sogar ein geistiger Vorsprung sein kann,
wenn denn ernsthaft nach Wahrheit gefragt wird.

Und wie sollte man es tun? Da gibt es die Antwort, die in der Frankfurter
Schule gegeben worden ist, die Antwort, die die Diskurstheorie zur Wahrheit
gegeben hat. Man muß im Gespräch, im Diskurs nach der Wahrheit fragen,
denn dort könne sich der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ entfal-
ten. Wenn es ihn denn gibt, wenn es denn wirklich bessere Argumente gibt,
dann gibt es ja doch auch so etwas wie Wahrheit. Dann gibt es vielleicht doch
so etwas, was die Menschen doch verbindet, was doch gemeinsam ist und
nicht nur der Zerfall in die verschiedenen Interessen.

Die Frage, die meines Erachtens heute steht und die gestellt werden muß, ist
die, ob denn der postmoderne Zerfall der Vernunft in lauter Interessenver-
nünfte überwunden werden kann durch eine neue Vernunft, durch eine neue
Vernunft der Nachhaltigkeit, eine Vernunft des Überlebens. Ich denke, das ist
die Frage, vor der wir stehen in Ost und West. Da sind möglicherweise die
Fragen, die die Ossis stellen, ganz wichtig, und ich könnte Beispiele dafür
bringen, wie dies auch und gerade von solchen Menschen geschieht, die beruf-
liche Perspektiven verloren haben, die arbeitslos geworden sind. Es gibt ein
erhebliches Potential an Wissenschaftlern, die arbeitslos geworden sind, weil
sie abgewickelt worden sind. Da, finde ich, sollten solche Projekte, wie sie von
der Bertelsmann-Stiftung entwickelt worden sind, geistige Orientierungs-
schritte ins dritte Jahrtausend zu finden, viel stärker intensiviert und extensi-
viert werden, damit es zu einer Neugewinnung einer auch politischen Vernunft
der Nachhaltigkeit kommt. Danke schön.

(Beifall)

Gesprächsleiter Prof. Dr. Bernd Faulenbach: Vielen Dank Herr Fischbeck
für Ihren Versuch, auch kritische Fragen an die westliche Lebensweise in die-
ser Konstellation zu stellen. Es folgt Herr Ulrich Schacht.

Ulrich Schacht: Also, ich danke zunächst natürlich auch für die Einladung,
hier in diesem Haus zum Thema etwas sagen zu können. Ich teile die Ge-
fühlslage von Herrn Fischbeck außerordentlich. Nicht zuletzt deshalb, weil es
dieses Haus war, das meine Mutter irgendwann im Herbst 1973, natürlich beim
Hinterausgang, versuchte zu betreten, um eine Eingabe abzugeben für mich,