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Wahlperiode 12, Band II/1, Seiten 230 und 231
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Protokoll der 21. Sitzung

meine Frau mit meinem Sohn nach West-Berlin geholt. Ich konnte nicht
verhindern, daß meine Mutter verhaftet wurde. Danach habe ich Leuten
geholfen, die durch die Mauer getrennt waren. Zuerst haben wir die Leute
durch den Zaun geholt. Als das später nicht mehr ging, haben wir Tunnel
gebaut. Eines Tages war auch das nicht mehr möglich.

Bei einem Fluchttunnel, den ich nicht von Anfang an mitgebaut habe –
vielleicht war es eine Falle der Stasi, ich weiß es nicht –, bin ich am
14. November 1962 in Kleinmachnow verhaftet worden und kam dann
vor das Oberste Gericht. Die Verhandlung lief über drei Tage. Ich wurde
wegen „Verbrechen gegen das Gesetz zum Schutze des Friedens“ zu einer
lebenslangen Haftstrafe verurteilt, verbrachte einen Teil meiner Haftzeit in
Hohenschönhausen, die restliche Zeit in der Haftanstalt in Brandenburg, in
der auch Honecker gesessen hat. Dazu möchte ich sagen: Wenn Feiertage
waren und die alten Kämpfer nach Brandenburg kamen, wurden sie durch die
Haftanstalt geführt. Man hat natürlich alles versucht, die Häftlinge zu isolieren.
Im Zellhaus hat man Lebensmitteltüten mit Wurst, Obst usw. an die Zellen
gehängt, um den Leuten zu suggerieren, daß es den Häftlingen so gut gehe.
Das war aber nicht so. Die Ernährung in Brandenburg war sehr schlecht, und
auch in Hohenschönhausen war es kein Zuckerlecken.

Nach vier Jahren gelang es der Bundesregierung, mich freizukaufen. Seitdem
lebe ich in West-Berlin. Ich bin Angestellter beim Senator für Inneres und bin
zuständig für die politisch und religiös Verfolgten des Nationalsozialismus.

Ilona Rothe: Mein Name ist Ilona Rothe. Ich bin Präsidentin des Bundes der
in der DDR Zwangsausgesiedelten. Ich selbst bin kein Opfer des Regimes –
auf keinen Fall. Ich vertrete hier meinen Mann, der zwangsausgesiedelt ist, und
ich vertrete rund 12 000 Menschen, die dieses Schicksal durch die Aktionen
„Ungeziefer“ und „Kornblume“ getroffen hat. Ich würde gern die Gelegenheit
benutzen, dazu noch Näheres zu sagen.

Gesprächsleiter Karl Wilhelm Fricke: Vielleicht darf ich Sie sogar bitten,
ganz kurz zu definieren, was das für Aktionen waren. Die Begriffe sind ja
nicht so geläufig.

Ilona Rothe: Vielleicht kann ich doch gleich etwas dazu sagen. Es ist
leider trotz unseres großen Engagements vielen noch nicht bewußt geworden,
daß sich in der damaligen DDR etwas abgespielt hat, was sehr grauenvoll war:
In zwei Nächten wurden Menschen im innerdeutschen Grenzgebiet entlang der
Grenze zur Bundesrepublik überfallen.

Gesprächsleiter Karl Wilhelm Fricke: Das war in welchem Jahr?

Ilona Rothe: Die Aktion „Ungeziefer“ war in der Nacht vom 6. zum 7. Juni
1952 und die Aktion „Kornblume“ am 3. Oktober 1961. Wir haben das
ermittelt, zunächst hat man das nicht gewußt. Mein Mann, der selbst betroffen
war, wußte zum Beispiel nicht, daß es die 61er Aktion noch gab. Es war

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SED-Diktatur – Unterdrückungsmechanismen/Alltag

innerhalb des Landes sehr wenig davon bekannt, auch die Zeitungen im Innern
haben nichts gebracht. Wir haben sehr viele Recherchen betrieben.

Es waren stabsmäßig vorbereitete Aktionen, die sich so abspielten, daß die
Dörfer nachts umzingelt wurden. Was man nicht weiß – die meisten glauben,
ganze Dörfer oder Straßenzüge seien beseitigt worden, das war nicht an dem
–, ist, daß es selektierte Familien betraf. Deren Höfe wurden umzingelt, die
Menschen mit Waffengewalt aus den Betten gerissen, ihnen wurde eröffnet,
sie hätten das Haus zu verlassen, ihre Heimat zu verlassen. Die beiden Fragen,
die stets gestellt wurden, waren die Fragen nach dem Warum und nach dem
Wohin. Diese Fragen wurden nicht beantwortet.

Es stellte sich große Angst ein. Die Menschen begingen zum Teil Selbstmord,
sie drohten mit Selbstmord. Sie liefen zum Friedhof, um sich von den Gräbern
ihrer Verwandten zu verabschieden. In manchen Orten kam es zum Aufruhr.
Inzwischen waren schon Lkws herangefahren, und fremde Menschen packten
Hab und Gut ein. Die Familien wurden samt ihrer Habe auf offenen Lkws
zu Viehwagen gebracht, zu langen Güterzügen. Dort wurden die Menschen
eingesperrt, es wurde von außen abgeschlossen, und sie saßen darin und
wußten immer noch nicht, wohin es gehen sollte. So setzte sich der Zug
nachts mit unbekanntem Ziel in Bewegung. Man setzte die Menschen dann
irgendwo im Landesinneren ab.

Meinen Mann hat das im Alter von elf Jahren betroffen. Seine Mutter war
eine alleinstehende Frau mit fünf kleinen Kindern von zwei bis elf Jahren. Die
Kinder hatten nicht einmal ein Strümpfchen am Fuß, hatten keine Bekleidung.
Meine Schwiegermutter ist im Nachthemd abtransportiert worden, und man
hat sie drei Tage im offenen Lkw durch Thüringen gefahren. Dann wurden sie
irgendwann auf einem Tanzsaal abgeladen und mußten dort ein halbes Jahr
in einem Bett schlafen, hatten nichts – keine Kaffeetasse, kaum etwas zum
Anziehen, kein Geld.

Das war der Anfang eines Schicksals, das viele tausende Menschen ihr
ganzes Leben lang begleitet hat: keine Arbeit, schlecht bezahlte Arbeit.
Die Kinder wurden in der Schule drangsaliert. Es wurden – wir haben das
gefunden und in zwei Dokumentationen heute mitgebracht – „operative Akten“
angelegt. Es befinden sich also auch zahlreiche Akten bei der Staatssicherheit.
Jeder bekam seinen „Betreuer“, seinen Bewacher, und das Leben setzte
sich in erschreckender Weise fort – bis zum heutigen Tag. Wir haben
festgestellt, daß die Betroffenen bis heute in den Kreismeldekarteien als
„politisch gefährliche, mit dem Klassenfeind sympathisierende Menschen“
gekennzeichnet sind und im Lochfeld 10 eine Flachkerbung erfahren haben.
Das bedeutete, in politisch schwierigen Zeiten konnten diese Menschen mit
einem Knopfdruck ermittelt werden. Und so ist das heute noch.

Das soll vielleicht erst einmal genügen, es können ja Fragen gestellt werden.