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gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen. Darin gründet die Vorstellung
von der Andersartigkeit der kommunistischen Staaten gegenüber allen anderen
politischen Gebilden. Günter Schabowski sprach in der Anhörung in Berlin
von dem „total anderen gesellschaftlichen Modell“, das die DDR verwirklichen
wollte.
Natürlich zeigten sich bei der Verwirklichung solcher totalen Andersartigkeit
bereits in der Sowjetunion Grenzen des Machbaren. Aber ansatzweise wurde
durch innenpolitische Maßnahmen durchaus versucht, die vermeintlich bürger-
lichen, in Wirklichkeit aber offenbar zur Existenz des Menschen notwendigen
Strukturen, wie Ehe und Familie, Privatbetrieb, Selbständigkeit, Nation, Recht,
Gesetz und Staat zu zerstören oder zumindest zu begrenzen und umzudeuten.
So läßt sich sicherlich die Familie nicht „aufheben“, aber man kann durch
Ausweiten der staatlichen Erziehung, durch Arbeitszwang für alle, durch Un-
möglichmachen der Eigenverantwortung, etwa bei der Wohnraumbeschaffung,
bei der Vorsorge vor Krankheit und Alter, bei der Urlaubsgestaltung, bei
der Ausbildungs- und Arbeitsplatzwahl die Familie als privaten Faktor der
Lebensgestaltung teilweise „aufheben“.
Nun kommen wir zum dritten angedeuteten Fragenkomplex. Wird durch die
Beseitigung der eben genannten gesellschaftlichen Strukturen die Befreiung
des einzelnen aus Zwängen der verschiedensten Art befördert – wie Karl Marx
nahelegte – oder wird dadurch nicht Freiheit, Verantwortungsbereitschaft des
einzelnen für sich und für das soziale Ganze zerstört und deshalb der Diktatur
der Zugriff auf den einzelnen erleichtert?
Es war, so scheint es, ein gravierender Irrtum des Karl Marx zu glauben,
daß durch eine allgemeine Emanzipation der Gesellschaft und des Menschen
die „Pfeiler des Hauses“ eingerissen werden können, so daß die institutionelle
Verfaßtheit der politischen Welt überhaupt mit ihren Regelungen der Vermitt-
lung zwischen Einzelwillen und Gesamtwillen über Bord geworfen werden
können.
Diese Vorstellung von einer allgemeinen Emanzipation des Menschen wird bei
Karl Marx mit einer weiteren anthropologischen Grundvorstellung kombiniert,
nämlich der, daß an dieser radikalen emanzipatorischen Revolution mit der
möglichst vollständigen Beseitigung der bis zu seiner Zeit gültigen bürger-
lichen Strukturen keineswegs der Mensch als Individuum teilhaben kann,
sondern nur als Glied des Proletariats. (Karl Marx, Einleitung zur Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie.) Der Mensch bedarf zu seiner Emanzipation –
so Karl Marx – der Leitung durch die Diktatur des Proletariats. Vehement wird
daher die liberal-rechtsstaatliche Gewaltenteilung – bekanntlich unabdingbar
für die Erhaltung der Freiheit – von Karl Marx abgelehnt. Er fordert „nicht
eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft, vollziehend und
gesetzgebend zu gleicher Zeit“ („Der Bürgerkrieg in Frankreich“). Es ist kein
Zufall, daß Lenin in seinem Werk „Staat und Revolution“ gerade diese Forde-
rungen des Karl Marx aufgriff und ihnen zu verhängnisvoller Verwirklichung
verhalf (dazu: Klaus Hornung: Emanzipation ist nicht Freiheit. Bemerkungen
zum Umschlag der Emanzipation in den Despotismus bei Karl Marx, S. 155
und 161).
Die Aufarbeitung solcher Fragenkomplexe, die – wenn man so will – die kri-
tische Durchleuchtung der marxistischen Theorie von ihren anthropologischen
Grundlagen her und in den Folgen ihrer Verwirklichung im politischen System,
muß eine der Aufgaben der Enquete-Kommission sein, damit die Lehren der
Geschichte bewußt werden.
Ich denke, daß wir bei unseren Referenten, die heute zu uns sprechen werden,
allen Anlaß haben zu hoffen, dazu wichtiges zu erfahren. Vielen Dank für die
Aufmerksamkeit.
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Ich teile Ihre Hoffnung, liebe Kollegin,
und möchte Ihnen herzlich danken für das, was Sie uns einführend gesagt
haben. Bevor ich Herrn Professor Weber ums Wort bitte, möchte ich Ihnen
noch mitteilen, daß Sie heute zumindest in der ersten Hälfte dieses Vormittages
jeweils drei oder vier Minuten, das zweimal oder dreimal, sich vielleicht in
einen Konzertsaal versetzt fühlen. D.h., wir werden nachher zur geistigen
Auflockerung etwas Musik hören. Zunächst aber Herr Professor Weber bitte.
Sv. Prof. Dr. Hermann Weber: Marxismus-Leninismus und die soziale
Umgestaltung der SBZ/DDR. Die Instrumentalisierung des Marxismus-
Leninismus
Verehrte Anwesende! In der DDR galt der Marxismus-Leninismus als herr-
schende Ideologie, wie es offiziell hieß. Deshalb stützten sich nicht nur
Konzeptionen und Strategien, sondern die gesamte Politik der SED auf den
Marxismus-Leninismus. Auch die soziale Umgestaltung wurde in dieser Sicht
als „Anwendung“ des Marxismus interpretiert. Ziel der SED war es, eine
Gesellschaft der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit zu errichten. Zu prüfen
wäre daher zweierlei:
Erstens, war der Marxismus-Leninismus die von der Führung angewandte
Theorie, deren Vorgaben die Politik bestimmten, wie das hier gesagt wurde?
Oder aber diente er als Instrument, als Rechtfertigung der SED-Politik?
Zweitens, waren die durch dogmatische Schulung verbreiteten Inhalte der
Ideologie Grundlage politischer Einsichten und Motivation oder waren sie
Glaubensdoktrinen zur Disziplinierung der Anhängerschaft?
Nach dem, was wir bisher gehört haben, nach dem, was auch die SED offiziell
sagte, könnte man meinen, die Sache sei klar. Die DDR-Gesellschaft war
der Versuch, die Theorie von Marx zu verwirklichen und dieser Versuch ist
mißglückt. Nur, es käme wohl niemand auf die Idee, bloß deshalb, weil sich
die DDR Deutsche Demokratische Republik nannte, auch zu sagen: das war
eine Demokratie und der Fall ist abgehakt. Offensichtlich müssen wir etwas