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wissenschaftliche Diskussion über eine mehr oder minder richtige, weit
verzweigte und in vielen Schattierungen existierende Theorie und Ideologie zu
führen. Vielmehr gibt es Charakteristika des Marxismus, die in der politischen
Verwirklichung zu gravierenden Veränderungen des gesellschaftlichen Seins
führen. Das war es ja in erster Linie, was die Menschen in der Sowjetunion, in
der DDR usw. betroffen hat. Die Theorieauseinandersetzung über die Frage,
welche Zitate herangezogen werden können, ist da wohl weniger wichtig.
Natürlich gibt es eine Fülle von Zitaten, die man verwenden kann, ähnlich
wie in der Bibel, die ja auch teilweise widersprüchliche Zitate enthält. Es gibt
aber sehr unterschiedliche Marxismus-Interpretationen und -Darstellungen,
selbstverständlich, und es gibt vor allem die Frage: wie weit haben die
Leute das geglaubt? Und: wie weit haben sie das in der oft genannten
„Schizophrenie“ herunterbeten können, andererseits aber ganz anders und
vernünftig gedacht? Das alles ist wichtig.
Noch viel wichtiger scheint mir die Frage zu sein, auch für die Zukunft:
Wie wurde das gesellschaftliche Sein gestaltet, und zwar mit marxistischen
Elementen? Dabei ist nun einmal, hiermit sei es wiederholt, die Enteignung
natürlich am wichtigsten. Erwachsen nicht gerade daraus die gegenwärtigen
Schwierigkeiten, die ja größer sind als z. B. die Überwindung des Nationalso-
zialismus vor einiger Zeit? Wie also verhält sich dies? Und schließlich meine
ich persönlich, daß sich gerade hier auch eine ganz große Chance eröffnet.
Das möchte ich gerade jetzt zu Ihnen sagen, lieber Herr Ernst: auf Werte kann
man, das kann man aus dem, was wir hier heute besprochen haben, schließen,
nicht verzichten. Sie sind nichts Beliebiges. Werte können jedenfalls, wenn
man diese marxistischen Werte mal heranzieht oder Unwerte, je nachdem,
Werte können das gesellschaftliche Sein gestalten und das heißt, sie sind auch
für die materiellen Lebensverhältnisse wichtig, sogar entscheidend wichtig.
Diese Einsicht könnte, und wir wollen hoffen, daß es so ist, könnte zur Einsicht
von der, sagen wir mal frech, zur Einsicht in die „Abhängigkeit des Fressens
von der Moral“ oder Ideologie führen. Vielen Dank!
Stellvertretende Vorsitzende Margot von Renesse: Herzlichen Dank an alle
unsere Berichterstatter heute. Aber jetzt haben wir ein großes Problem. Es
rennt uns die Zeit in einer Weise weg, daß wir unsere Zeit wohl kaum noch
einhalten können. Wir haben hochinteressante Beiträge noch zu erwarten und
ich denke, daß wir das auch wie beschlossen tun sollten. Allerdings sollte sich
jeder, der hier zu Worte kommt, wer das ist, können Sie aus Ihrem Programm
entnehmen, darum möchte ich herzlich und dringend bitten, auf zehn Minuten
beschränken. Wir sind alle MdBs und an Redezeitbegrenzungen gewöhnt.
Jetzt zu einer Ausnahme unter den weiteren Referenten. Herr Noack kann
leider nicht unter uns sein, denn sein Flieger wurde durch Nebel gehindert
zu starten. An seiner Stelle haben wir sicherlich mit Wolfgang Thierse keinen
kümmerlichen Ersatz. Er muß aber seinerseits bald starten mit einem Flieger,
der hoffentlich bei gutem Wetter nach Hause kommt. Deswegen möchte ich
Sie sehr bitten, daß wir Herrn Thierse vorziehen dürfen. Die Herrschaften, die
nun sprechen werden, bitte ich, alle hier vorn Platz zu nehmen, damit wir Sie
Auge in Auge sehen können.
Wolfgang Thierse, MdB: Bei Gründung dieses Staates war ich sechs. Ich
war bis zum Ende da und habe nicht den Eindruck, daß ich mich dafür
schämen und das entschuldigen müßte. Ich bin aufgewachsen in einer kleinen
Stadt. Meine Eltern haben mich als Christ erzogen und ich habe versucht, ein
Christenmensch zu werden und zu sein. Das heißt, man ist schon aus diesem
Grunde durch Minderheitserfahrungen geprägt.
Mein Vater war Rechtsanwalt. Ich bin also aufgewachsen mit den Niederlagen
eines Vaters auch in politischen Strafprozessen. Das machte immun für
alles, was folgte. Dies als Vorbemerkung, um zu erklären, daß ich schon
von Kindesbeinen an eine heftige habituelle Abwehr gegen alle Formen der
Hyperpolitisierung und der Instrumentalisierung des Denkens, der Moral, der
Philosophie gehabt habe. Trotzdem habe ich dann etwas studiert, was man in
der DDR Gesellschaftswissenschaft nannte, was also Moment der Ideologie
war oder eine ideologische Wissenschaft. Ich hatte einfach keine Lust, Medizin
zu studieren; Jura wollte ich auch nicht studieren, nach den Erfahrungen mit
meinem Vater und nach der Angst, ich könnte etwa Richter oder Staatsanwalt
werden müssen. Denn zu dem Zeitpunkt, als ich studieren wollte, hatte man
noch die glorreiche Idee, das sozialistische Rechtswesen könne vielleicht auch
ganz ohne Rechtsanwälte auskommen. Ich habe also Kulturwissenschaft und
Germanistik in Berlin studiert. Das war eine Art Philosophiestudium mit
Spezialisierung auf Ästhetik, Kulturtheorie, Kulturgeschichte. Das war die
Forcierung dessen, was schon mehrfach beschrieben worden ist.
Wilhelm Ernst hat ausführlich darauf hingewiesen, daß in der DDR ein gespal-
tenes Bewußtsein forciert wurde. Ich war zugleich Sprecher der katholischen
Studentengemeinde in Berlin und dann Sprecher der katholischen Studen-
tengemeinde in der DDR und habe täglich Vorlesungen zur marxistischen
Philosophie gehört und zwar, es ist vorhin schon zitiert worden, unter der
Losung: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist.“ Wer unter dieser
Drohung sitzt, wird auch immun gegen das, was ihm da unter dieser Losung
gesagt wird. Es ist wirklich eine Drohung, unter der man da sitzt. Egal, was
da gesagt wird, es kann nicht richtig sein.
Nun zu der Forcierung von „Schizophrenie“. Ich habe darauf hingewiesen,
um jetzt einen Akzent hervorzuheben, von dem ich ahne, daß Udo Haschke
und Wolfgang Ullmann usw. viele ähnliche Erfahrungen berichten werden,
die ich berichten muß. Ich denke schon, Herr Löw, daß es richtig ist,
wenn wir mit intellektueller Schärfe danach zurückfragen, was bei Marx
selber angelegt ist. Ich habe immer gefunden, daß wir uns davor nicht
mit intellektuellen Tricks drücken dürfen. Das ist richtig. Es ist auch