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Wahlperiode 12, Band III/1, Seiten 92 und 93
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Protokoll der 28. Sitzung

Stellvertretende Vorsitzende Margot von Renesse: Meine Damen und
Herren, jetzt haben wir in etwa, in wenigen Minuten, das Ende dieser Sitzung
erreicht. Es ist mir aufgetragen worden, ein Schlußwort zu sprechen. Das fällt
mir nicht leicht, angesichts der Vielzahl von ausgesprochenen Sachkennern,
die hier gesprochen haben und zu denen ich nicht gehöre und derjenigen, die
vieles selber erlebt haben, zu denen ich auch nicht gehöre. Ich war also im
wahrsten Sinne des Wortes ein Zuschauer, eine Lernende und nicht jemand,
von dem man lernen kann.

Wenn ich nun ein kurzes Schlußwort halte und dies nicht von vornherein
zurückgewiesen habe, dann mit der Selbstsicherheit, daß das, worüber wir
sprechen, immer schon unsere gemeinsame Geschichte war und erst recht
nach 1990 geworden ist, daß wir das erkennen müssen, und daß nur in diesem
Erkennen, in dem Selbsterkennen im Spiegelbild des jeweils anderen, für uns
eine gemeinsame Geschichte überhaupt schreibbar ist.

Ich habe einige Fragen, die ich zusammenstellen will, die mich gerade auch
als jemanden aus dem Westen fragen läßt, weil es Fragen auch an unsere
gemeinsame Erfahrung, an unsere Erfahrungen, sein könnten. Ich will mich
nicht lange aufhalten mit der wahrscheinlich zwischen den einzelnen hier und
zwischen den Gruppen endlos zu diskutierenden Frage, was Marx als Person,
als Denker für eine Rolle spielte in der gesamten Wirkungsgeschichte des
Marxismus. Ich kann dazu nichts sagen und es wird strittig bleiben, nehme ich
an, für lange Zeit. Vielleicht kann man sagen, daß Plato deswegen so wichtig
ist, weil die „Politeia“ nie in die Tat umgesetzt wurde. Möglicherweise hätte
man auch in einem solchen Staat nicht leben können.

Ich kenne den Ausspruch von Herrn Breuning, einem Kollegen Ihrer Zunft, der
einmal gesagt hat, Marx sei ein großer Denker und seine Irrtümer seien von
seinen Jüngern unter dem Namen Marxismus weiterverbreitet worden. Das
ist ein schönes Aperé7u, aber was daran stimmt und was daran aphoristisch
zusammengeschnurrt ist, vermag ich nicht zu sagen.

Die Frage, die sich mir stellt, ist, was macht ein Denkgebäude, welcher Art
auch immer, was macht ein Denkgebäude zu einer instrumentalisierbaren
Ideologie und wie geschieht das in den Händen einer Macht, die nicht nur
mit Druck und Angst Gehorsam erzwingt, sondern die den einzelnen in ihren
Dienst nimmt, so daß ein Prozeß von Einverständnis, von Anpassung bis hin
zur Untertänigkeit abläuft, der nicht einmal mehr nach dem Machtmittel in
jedem Falle verlangt? Ich denke, daß wir alle darauf Antworten geben müssen,
Osten wie Westen. Denn wir haben Gemeinsamkeiten in der Geschichte, die
uns alle in dieser Form befragen.

Mich bewegt die Frage, was ist die Hinterlassenschaft? Und davon war auch
hier die Rede. Da war die Rede von den Begriffen, die noch existieren, die
Verwirrung stiften zwischen Ost und West, die aber auch befrachtet sind mit

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Marxismus-Leninismus und soziale Umgestaltung

Denkstrukturen, über die geredet werden muß und auf die jedenfalls reagiert
werden muß.

Mich bewegt die Frage nach dem Wert der Werte. Es ist mir schon aufgefallen
bei der Stasi-Diskussion, daß die Frage, was ehrlich ist, was zuverlässig ist,
plötzlich einen anderen Klang bekommt. Und auch hier werden wir überlegen
müssen, was an Konsens herstellbar ist, was noch da ist. Ob wir das schaffen
können, da habe ich große Zweifel. Das ist nicht die Aufgabe der Politik.
Komischerweise ist die Demokratie ein Großverbraucher an Werten, aber sie
schafft sie vielleicht nicht. Und es ist die Frage, wo wir Strukturen in unserer
Gesellschaft fördern, die Werte schaffen. Dazu gehören sicherlich eine ganze
Reihe, nicht zuletzt auch die Kirchen, ich sage, auch die Kirchen, und nicht
„nur“.

Ich frage mich, welche Enttäuschungen in einer Welt auf Menschen warten,
die plötzlich in einer Welt leben, die sich nicht mehr einfach erklärt. Das haben
wir im Osten, das haben wir im Westen. Die Sehnsucht nach geschlossenen
Systemen bedeutet immer die Gefahr der Ausgrenzung und Intoleranz, in
welcher Form auch immer. Auf der anderen Seite können Menschen in
einer Welt, die nur kalt und kompliziert ist, auch nicht leben. Wie wir
darauf reagieren, werden wir zu beantworten haben. Wichtig scheint nach
allem, was auch die Biographien gezeigt haben, daß es für Menschen wichtig
ist, einen archimedischen Punkt zu haben, aus dem heraus sie Souveränität
gewinnen, um sich und die Welt um sie herum auch anders zu erklären als die
Konsenssignale ihrer Umgebung. Dieser archimedische Punkt läßt sich wohl
nicht verordnen. Ich glaube persönlich nicht, daß der Spruch „de omnibus
dubitandum“ dafür ausreicht. Aber er ist jedenfalls ein Anfang.

Zum Schluß eine kleine Geschichte, die mich ganz in meiner frühen Jugend
dazu veranlaßt hat, über das nachzudenken, was wir heute besprochen haben.
Meine Mutter war Leiterin eines Kollegs für Studenten und Schüler, die aus
der DDR geflohen waren und ihr Abitur machen oder nachmachen wollten.
Weil sie russisch konnte, ist sie in diese Position gekommen. Ich habe im Jahre
1961, genau in der Zeit des Mauerbaus, in diesem Internat zugebracht. Vier
Wochen habe ich das Zimmer geteilt mit einer Studentin aus dem Osten, die
etwa in meinem Alter war. Damals hatte ich noch das Gefühl, wer aus dem
Osten kommt, ist ein politischer Überzeugungstäter, also ganz was Tolles. Da
muß ich voller Bewunderung auf diese Leute mit diesem Schicksal schauen,
die etwas riskiert haben, die etwas aufgegeben haben, das sind schon beinahe
Märtyrer. Und als ich sie dann erzählen hörte, da kam sie mir so unglaublich
normal vor. Da fragte ich sie einmal irgendwann: „Sag mal, warum bist Du
eigentlich in den Westen gekommen?“ Darauf hat sie mir etwas gesagt, das
ich bis zum heutigen Tage für sehr menschlich halte. Sie sagte: „Ach, weißt
Du, man mußte immer so begeistert sein.“

Meine Damen und Herren, wir sind am Ende eines wichtigen und interessanten