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Wahlperiode 12, Band III/1, Seiten 100 und 101
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Protokoll der 30. Sitzung

Hier stellt sich nun die Frage nach der Entstehung von Rechtsradikalismus
und Rechtsextremismus in der DDR. Ist eine der Ursachen in dem sinkenden
Glauben an die Antifaschismus-Ideologie und das damit entstehende Mo-
tivationsvakuum zu sehen? Oder war es bewußte militante Opposition zur
herrschenden Staats-Ideologie, die zu überzogenen Anti-Vorstellungen führte,
so wie es auch heute eine „Anti-Antifa-Bewegung“ gibt?

Wie das Bundesamt für Verfassungsschutz feststellte (vgl. Heinrich Sippel,
„Rechtsextremismus in Deutschland. Eine Lagedarstellung.“ Vortrag vom
9.2.1993), gibt es heute eine Konzentration der rechtsextremistischen Gewalt
in den östlichen Bundesländern. Bezogen auf die Einwohnerzahl standen
1992 die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg hinsichtlich
rechtsradikaler Gewalttaten mit großem Abstand an der Spitze aller bun-
desdeutschen Länder. In diesen beiden Ländern wurden jeweils mehr als
doppelt so viele rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten begangen wie in
Schleswig-Holstein, dem am meisten von solchen Gewalttaten heimgesuchten
westdeutschen Land. Alle neuen Bundesländer befinden sich in der ersten
Hälfte der in Relation zur Einwohnerdichte erstellen Häufigkeitsskala. Selbst
das von den neuen Ländern am wenigsten betroffene Thüringen steht noch
vor Berlin, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen, Hamburg, Rheinland-
Pfalz, Bayern und Bremen.

Von den derzeit rund 6400 gewaltbereiten rechtsextremistischen Personen
wohnen etwa 3800 in den neuen Bundesländern und Berlin, in den alten
Bundesländern sind es (nur) 2600.

Diese auffallend ungleiche Verteilung kommt vermutlich daher, daß – nach
Auffassung des Verfassungsschutzes – der klar politisch motivierte Rechtsradi-
kalismus in der DDR länger als in den alten Bundesländern existiert. Während
in den alten Bundesländern in den frühen 80er Jahren politisierte Elemente
in der Subkultur der Skinheads eher vereinzelt auftraten, war das rechte
Gewaltpotential zu jener Zeit in der DDR bereits nicht unerheblich. Es gab
600 bis 1000 politisierte Skins, die unter scharfer Kontrolle der Staatssicherheit
standen.

Natürlich fragt man sich, ob die jüngst aufgedeckte Stasi-Aktion „Vergißmein-
nicht“ von 1961, durch die jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in der
damaligen Bundesrepublik durch antisemitische Drohbriefe in Angst und
Schrecken versetzt wurden, auch schon als Hinweis auf eine bestehende rechts-
extremistische Szene in der DDR zu werten ist (Report, ARD, 8.2.1993).

Aber zurück zu der Frage nach dem politischen Zusammenhang bzw. der po-
litischen Konfrontation von Antifaschismus-Ideologie und Rechtsextremismus
in der DDR.

Annette Simon weist auf das bekannte psychologische Phänomen hin, daß die
Jugend bisweilen mit heftigen Gegenreaktionen auf die Ideale der Eltern und
Lehrer reagiert – vor allem wenn diese als bloße Worthülsen erkennbar sind.

101
Antifaschismus und Rechtsradikalismus

Zum Verhalten eines Klassenkameraden, der Hakenkreuze an die Wände des
Schulhauses geschmiert hatte, bemerkte sie: „Er war ganz bestimmt kein
Neonazi, und nur die völlig überzogene Reaktion der Erwachsenen muß ihn
dann darin bestätigt haben, daß er offensichtlich einen allergischen Punkt
traf und so die lang ersehnte Aufmerksamkeit bekommen konnte.“ Ähnlich
argumentierte Joseph Rovan „Wo aber 1968 nicht stattfinden durfte, in den
ehemals kommunistisch beherrschten Ländern, da suchen viele Jüngere im
Neofaschismus die Art und Weise, mit der sie den Wortantifaschismus ihrer
Eltern am besten provozieren können...“ (Welt 16.2.1993)

Aber die Justiz kam nur in ganz seltenen Fällen zu der Erkenntnis, daß die
fremdenfeindlichen Gewalttäter der letzten Zeit völlig unpolitisch handelten.
Vielmehr läßt sich sehr wohl eine Motivation durch eine Ideologie erkennen,
die durch ein elitäres Rassedenken bestimmt ist, das alle „Andersrassigen“ –
bei einer gewissen graduellen Abstufung – als minderwertig klassifiziert.

Für den Rechtsextremismus in der DDR der achtziger Jahre hat Konrad
Weiß aber auch andere ideologische Momente nachgewiesen. Es wird deutlich,
daß die rechtsextremen Gruppen eine ideologische Orientierung besaßen, die
sie bewußt als Lebensmaxime gegen die herrschende Ideologie setzten („Die
neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR. In: Alles ist im Untergrund
obenauf, . . . Ausgewählte Beiträge aus der Zeitschrift KONTEXT 1–7, Berlin
1990, S. 18–31)

Für die Zukunft unseres Staates ist es m.E. von größter Wichtigkeit,
die unheilvolle Wechselwirkung von marxistischer Antifaschismus-Ideologie
und Rechtsextremismus aufzuklären und ihr politisch und wissenschaftlich
entgegenzutreten. Eine Ideologie, die dem Menschen, die ihm gemäßen
geistigen Lebensgestaltungsprinzipien nehmen will, wird leicht Gefahr laufen,
überzogene Reaktionen darauf zu provozieren. Wer meint, den Menschen
als Individualität ausschalten und zum Kollektivwesen formen zu können,
wird die Gefahr heraufbeschwören, daß „Ich-Gefühl“ und „Selbstbestätigung“
übersteigert und ggf. mittels körperlicher Gewalt erfahrbar gemacht werden.
Wer meint, die Einordnung der Menschen in eine Nation „aufheben“ und durch
Internationalität ersetzen zu können, kann unter Umständen nationalistische
Übersteigerung als schreckliche Folge bewirken.

Es ist an der Zeit, solche sozialpsychologischen Bedingungen und Konsequen-
zen politischer Systeme und politischer Ideen besser als bisher zu bedenken
und zu erforschen. Ich möchte hoffen, daß die Arbeit der Enquete-Kommission
auch in dieser Hinsicht einige Beiträge leisten kann.

Sv. Dr. Bernd Faulenbach: Man hat den Antifaschismus als „Kernstück
des inneren und äußeren Selbstverständnisses“ der DDR bezeichnet (Olaf
Groehler). Mag dies auch überpointiert sein, so kann doch kein Zweifel
bestehen, daß der Antifaschismus zu den wichtigen „integrativen Faktoren“