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Wahlperiode 12, Band VI/1, Seiten 146 und 147
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Protokoll der 56. Sitzung

kann, daß wir nicht ein Nischendasein führen dürfen, und daß das Evangelium
auch mit Politik zu tun hat – das selbstverständlich, aber es bestand dabei die
Gefahr, daß das Eigentliche des Evangeliums nicht mehr zur Sprache kommt
oder nicht mehr als das Wesentliche erkannt wird, auch von Außenstehenden,
weil in der Kirche anscheinend nur noch um diese Dinge diskutiert wird. An
einer Stelle sagte heute Prof. Beintker auch etwas über die Bedeutung des
Glaubens bei dieser ganzen Thematik. Warum waren wir denn so nachgiebig?
Warum das Umfallen in Massen bei der Frage der Jugendweihe? Weil kein
Glaube da war oder zu wenig Glaube. Und die entscheidende Aufgabe der
Kirche ist nicht die Proklamierung, Unterstützung oder Kritisierung einer
bestimmten Gesellschaftsordnung, sondern ihre Aufgabe ist, den Glauben
zu stärken, weil das die zentrale Aufgabe für die Menschen ist, die das
Evangelium auszubreiten haben. Und das hat indirekt eine große politische
Bedeutung. Aber das Wort „Kirche im Sozialismus“ hat auch dazu beigetra-
gen, uns in diese Richtung zu lenken. Jedenfalls, und da greife ich etwas
auf, was Bischof Leich eben gesagt hat, hat das häufige Reden von einer
„Kirche im Sozialismus“ dazu beigetragen, daß die Zwangsvorstellung sich
weithin durchsetzte, man müsse sich mit diesem Herrschaftssystem unter allen
Umständen arrangieren. Wer anderer Meinung war, wurde zuweilen auch in
kirchlichen Kreisen als „kalter Krieger“ beurteilt. Ein Wort, das ich auch von
einem Generalsuperintendenten an meine Person gerichtet hören mußte. Dabei
ging es ja nicht um einen gewaltsamen Sturz dieses Systems. Es ist niemals die
Aufgabe einer Kirche, politische Widerstandsorganisation im engeren Sinne
des Wortes zu sein. Es ging schlicht und einfach um die Wahrnehmung des
Auftrags der Kirche, auch im politischen Bereich die Geltung des ersten
Gebots zu bezeugen. Rückschauend muß festgestellt werden, daß weder der
Begriff „Kirche im Sozialismus“ noch die daraus entspringende kirchenpoli-
tische Linie eine durchgreifende Entspannung im Verhältnis von Kirche und
Staat gebracht haben. Auch nach dem Gipfelgespräch vom März 1978 gab es
immer neue und sich steigernde Schwierigkeiten, besonders auf den Gebieten
der Jugendarbeit und des Friedensdienstes. Aus meinen Erlebnissen als Pfarrer
und Superintendent könnte ich gerade aus diesen Jahren nach 1978 noch
mancherlei berichten, wozu aber die mir zugewiesene Zeit nicht reicht.

Wer meinen Ausführungen zugehört hat, könnte daraus eine herbe Kritik
an den leitenden Männern unserer evangelischen Kirche heraushören. Ich
möchte betonen, daß in allem, was ich gesagt habe, auch Selbstkritik liegt. Ich
verkenne nicht die Schwierigkeiten der Aufgaben, vor die die Kirchenleitungen
gestellt waren, die ja schließlich auch für eine Organisation mit Tausenden
von Mitarbeitern einzustehen hatten, wo unter anderem auch die materielle
Existenz geklärt sein mußte. All diese Dinge habe ich als langjähriges Mitglied
einer Kirchenleitung durchlebt, habe Verständnis für viel taktisches Verhalten,
aber es bleibt dennoch die Frage, ob wir bei der Gratwanderung – um ein

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Haltung der evang. Kirchen zum SED-Staat

beliebtes Wort von Bischof Schönherr zu gebrauchen –, die uns auferlegt war,
nicht manches Mal erheblich abgerutscht sind, und zwar im Sinne einer zu
weitgehenden Anpassung an den real existierenden Sozialismus. Waren und
sind wir nicht überhaupt zu oft an den Zeitgeist angepaßt – auch heute? Leicht
wird dabei vergessen, daß die Kirche das ganz andere vertritt, eine ganz andere
Dimension. Davon muß immer etwas durchleuchten.

Heute klang mehrfach die Frage an, damit komme ich zum allerletzten,
ob wir nicht als Kirche wieder ein Schuldbekenntnis abzulegen hätten. Da
bin ich sehr zurückhaltend, denn Bekennen von Schuld ist zunächst einmal
etwas sehr Persönliches. Jeder muß sich selber fragen, an welcher Stelle
er versagt hat. Da wird jeder Punkte finden, wo er zugeben muß: Du
bist der Situation nicht gerecht geworden. Unsere evangelische Kirche hat
im Mittelpunkt das Wort „Rechtfertigung“, wie hoffentlich nicht nur die
Fachleute wissen. Damit ist nicht die Selbstrechtfertigung gemeint. Ich finde es
deprimierend, wenn auch im Blick auf diese „Kirche im Sozialismus“ so viel
Selbstrechtfertigung betrieben wird in dem Sinne: Es ging nicht anders, und
wenn noch einmal dieselbe Situation käme, würden wir es genauso machen.
Nicht Selbstrechtfertigung, sondern Rechtfertigung aus dem Glauben, aus der
Gewißheit der Vergebung heraus. Davon geht eine befreiende Kraft aus, das
macht uns Mut zur Ehrlichkeit, auch vor uns selber, und diese brauchen wir.
Ganz besonders brauchen wir sie nicht zuletzt bei der Behandlung unseres
Themas. (Beifall)

Gesprächsleiter Superintendent Martin-Michael Passauer: Vielen Dank,
Bruder Steinlein. Es ist schön, daß auch Lutheraner so unterschiedlicher
Meinung sein können. Bruder Besier, Bruder Steinlein hat gerade gefragt,
und das war nicht nur eine rhetorische Frage: Sind wir bei der Gratwande-
rung abgerutscht? Und Manfred Wilke, das sachverständige Mitglied unserer
Enquete-Kommission, vertritt öffentlich die These, daß die SED mit ihrer
Kirchenpolitik die Bedingungen bestimmte, unter denen die Kirche handelte.
Hat also die Kirche eigentlich nur auf einem ihr vorgegebenen Weg gehandelt
und ist sie, so ist ja Ihre These, dann in ein Herrschafts- und Abhängigkeitsver-
hältnis geraten, von dem sie nachträglich erst gemerkt hat, wohin sie geraten
ist? Die Frage an Sie: Ist das so? Wie sehen Sie das?

Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier: Zunächst einmal möchte ich bei der Frage
der Selbst- und der Fremdbezeichnung anknüpfen. Es ist mit Recht gesagt
worden, daß der Kirchenbund von der EKD nicht als einer „Kirche im
Kapitalismus“ gesprochen hat, und die EKD hat auch keine Selbstbezeichnung
gewählt, also „die Kirche in der sozialen Marktwirtschaft“ oder „die Kirche
in der bürgerlichen (westlichen) Gesellschaft“ oder ähnliches. Dies ist nicht
der Fall gewesen. Sie verstehen vielleicht, daß ich im folgenden den
Versuch unternehme, aus westlicher Sicht zu beschreiben, wie man dort auf
kirchenleitender Ebene die Kirche im Sozialismus gesehen hat. Da gibt es