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die Sprengkraft, die Selbstorganisation im Innern der DDR. Ich darf die beiden
Herren Hilse und Jeschonnek bitten, sich vielleicht doch noch etwas kürzer
zu fassen, als sie es ursprünglich vorhatten. Beide Herren sind inzwischen
eingetroffen, und ich darf Herrn Hilse bitten, mit seinen Ausführungen zu
beginnen.
Werner Hilse: „Die Flucht- und Ausreiseproblematik als innenpolitischer
Konfliktstoff in der DDR und innerhalb der DDR-Opposition.“ Ich werde
zu diesem Thema einige persönliche Bemerkungen machen, von Erfahrungen
berichten, bin jedoch der Meinung, daß ich dabei nicht bei mir bleibe, sondern
daß das Denken und Verhalten innerhalb der Kirche, der Gesellschaft und auch
in den Gruppen deutlich wird.
Zuerst einmal: Nachdem die evangelischen Kirchen in der ehemaligen DDR
mit der EKD zusammen beschlossen hatten, Berufsverbot auszusprechen für
Pfarrer, die es wagen sollten, gen Westen zu ziehen, war für mich, der ich
Pfarrer sein wollte, die Entscheidung abgenommen, bleiben oder gehen. Ich
habe eigentlich auch nie versucht, an irgendeiner Stelle da wider diesen
Stachel zu löcken oder durch die Hintertür zu bekommen, was mir durch
den Vorderausgang eben nicht möglich war. Einige in der Kirchenleitung
teilten diese Meinung zwar nicht, als sie feststellten, der Hilse will wohl
auch nach dem Westen, und dann folgten die Gravamina, die sie mit mir
hatten. Bezeichnenderweise findet sich diese Notiz in einem Gespräch, das
Herr Stolpe mit Herrn Hoffmann vom Magistrat führte. Ich bin eigentlich
nie gefragt worden, warum ich mich um eine Gruppe gekümmert habe, die
nicht geliebt war und allenthalben als eine unerträgliche Belastung angesehen
wurde. Nun ja, warum eigentlich fragen, positives Denken ist ja oft auch
nicht angesagt. Aber einen Nachteil hatte diese Vorentscheidung, und von
daher wird deutlich, wovon kirchliches Denken immer bestimmt worden ist,
diese Vorentscheidung, Bleiben ist das Bessere. Ich habe selbst erst lernen
müssen, mich und meine Entscheidung nicht zu einer Norm des Beurteilens
und des Behandelns von Andersdenkenden zu machen. Was ich akzeptierte,
das brauchten andere noch lange nicht zu akzeptieren, und das war eigentlich
das Wichtigste in diesem Lernprozeß. Wer für Freiheit und für Menschenrechte
eintrat und davon predigte und sagte, ich will das für mich selber nicht
in Anspruch nehmen, der konnte eine Argumentation nicht mitmachen, der
ich immer wieder begegnet bin und die eigentlich nur verschleierte – diese
Argumentation, die sagte: „Du darfst nicht gehen.“ Die Begründung war: „Ich
darf ja auch nicht.“ Von so manchem kirchlich Sozialisierten habe ich das in
den schönsten Formulierungen gehört.
Noch schlimmer fand ich eigentlich diese moralisch-ethische Keule, die immer
geschwungen wurde, sowohl in der Kirche als auch in den Gruppen, denen ich
begegnet bin. Es wurde immer gesagt: „Wir brauchen Dich, Du hast doch eine
Verpflichtung uns gegenüber, Freunde läßt man nicht im Stich“, oder kirchlich:
„Gott hat Dich hierhergestellt, und hier mußt Du Dich bewähren, hier ist die
Nachfolge Jesu.“ Die staatlichen Stellen sagten das nicht so fein, sie sprachen
aus, was die anderen verschleierten: „Wer geht, ist ein Verräter“, und machten
sie dann zu Kriminellen. Die Menschen, die gehen wollten, sind über diesen
Makel, der ihnen angehangen wurde, mehr oder weniger weggesprungen, und
ich habe da so ein bißchen die Wahrheit dieses Spruches kennengelernt, wenn
der Ruf erst einmal ruiniert ist, dann lebt sich’s weiter ungeniert. Und der Ruf
war auch ruiniert, wenn man einen Antrag auf Ausreise gestellt hatte, egal,
ob es Familienzusammenführung war oder ob sich Menschen auf Helsinki
und die von der DDR geleisteten Unterschriften beriefen, auf die Erklärung
der Menschenrechte, oder die einfach sagten, hier wird es zu eng, hier kann
ich nicht mehr atmen, hier will ich nicht mehr leben. Das letztere war ja
so subjektiv, daß es sofort aus der Reihe fiel, denn objektiv mußten andere
hier auch leben, wurde gesagt, wenn auch mit vielen Halsschmerzen, aber
ein Subjekt galt nicht viel, denn die DDR war ja alles. Die Verantwortlichen
merkten sehr bald, wenn wir an dieser Stelle nachgeben, dann gibt es einen
Dammbruch, und deswegen wurde hier sehr stark taktiert. Denn die Menschen,
die weggehen wollten, waren in der Regel nicht die schlechtesten, und in der
Kirche merkten wir, wir verloren treue Gemeindeglieder, manche sagten, nur
Steuerzahler. So war man sich eigentlich einig, daß gesagt wurde, bleiben ist
das Bessere. Das ging einigermaßen gut, solange Antragsteller vielleicht noch
relativ seltene Vögel waren. Da machte man eben einmal das Tor auf, und da
warf man hinaus, was nicht mehr wollte, so wie man einen Kübel mit Unrat
auskippte. „Sie sind es nicht wert“, aber die erhoffte Wirkung blieb eben aus.
Die Schar fing an zu wachsen, und damit fing es auch zu brennen an in der
DDR.
Ein Generalsuperintendent kam dann auf den Gedanken, die Leute zu
registrieren. Er legte Listen an, und die Leute standen Schlange, bis er
selber entweder nun kalte Füße bekam, weil kein Ende abzusehen war oder
weil der staatliche Druck zu stark wurde. Übrigens bin ich von den Leuten
immer wieder gefragt worden, was mit den Listen eigentlich geschehen ist.
Ich weiß es bis heute nicht. Es wurde eine andere Lösung versucht, und
das geschah nach dem Rezept, wenn wir oben nicht damit fertig werden,
dann gibt es ja noch die Basis, das heißt die Ausreisewilligen wurden an
die Ortsgemeinde verwiesen. Sie sollten dort um seelsorgerischen Beistand
nachsuchen, und Seelsorge geschieht ja, so war allgemein bekannt, im
persönlichen Gespräch. Damit hatte man die Menschen, die zum ersten Mal
erlebt hatten, wir sind nicht allein, wieder in die Vereinzelung geschickt
und gehofft, sie würden aus der Öffentlichkeit verschwinden. Und Seelsorge,
das war so erklärtes Ziel, war eigentlich Rückgewinnung. Einen kleinen
Nebeneffekt hatte die Geschichte, daß ja manche derer, die zu einem
Seelsorger gingen, zu einem IM gingen. Sie waren noch mehr unter Kontrolle.