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jedenfalls auch verfassungswidrig in diesem Sinne, wäre immer noch die
Frage, ob man nicht eine Richtervorlage machen müßte – Art. 100 Grundgesetz
ist das –, die sich mit dem § 27 DDR-Grenzgesetz beschäftigt.
Vielleicht lassen sich die Fronten trotzdem doch etwas dadurch aufweichen,
daß man einen anderen Weg geht. Wie mir bekannt ist, ist, glaube ich, eine
Jugendkammer in Berlin diesen Weg gegangen. Man kann sich vielleicht aus
der Patsche helfen, ohne zu diesem Riesenhammer „Änderung des Art. 103
Abs. 2 Grundgesetz“ greifen zu müssen, wenn man sich auf den Standpunkt
stellt: Legen wir doch einfach einmal diesen § 27 Grenzgesetz aus. – Ihn
auszulegen verbietet uns Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz ja wohl nicht.
Ich habe mir vorhin bei dem § 27 noch eine Vorschrift angemerkt. Im letzten
Absatz heißt es dort: Bei der Anwendung der Schußwaffe ist das Leben von
Personen nach Möglichkeit zu schonen. – Das steht in Absatz 5 des § 27
Grenzgesetz ausdrücklich drin.
Die Jugendkammer in Berlin ist, finde ich, einen sehr vernünftigen Weg
gegangen, indem sie sich zunächst einmal auf den Standpunkt gestellt hat:
Ich kann das Ganze jetzt eigentlich doch harmonisieren und kann dann zu
einer Strafbarkeit kommen, wenn ich insoweit den § 27 Abs. 5 interpretieren,
und zwar in einem anderen Sinne.
Da kann man, Herr Schroeder, an die juristische Dogmatik anknüpfen. Ein
Rückwirkungsverbot für die Interpretation von Gesetzen gibt es jedenfalls
nicht. Das hat bisher unser BGH auch immer abgelehnt.
Ich muß eines aber dazusagen: Von mir ist jetzt ein Weg gewiesen, den ich,
wenn ich ihn jetzt nicht selber vorgetragen hätte, schon als einigermaßen trick-
reich bezeichnen würde. Aber er scheint mir jedenfalls noch das plausibelste
Verfahren zu sein, wie man in solchen Fällen zur Strafbarkeit kommt.
Eines muß ich noch hinzufügen: Wenn dieser Weg, den ich gewiesen habe,
eigentlich die Jugendkammer in Berlin gewiesen hat, richtig ist, dann heißt
das: In allen diesen Mauerschützenprozessen muß jeweils gefragt werden:
War das sozusagen eine schonende Weise, in der sie damit umgegangen sind?
(Zuruf)
Ich kenne die beiden ersten Fälle, und da war die Weise nicht schonend. Da
konnte man in der Tat auch zur Strafbarkeit kommen.
Jedenfalls wäre das ein Mittelweg, ein Weg, wie man sich als Jurist, denke
ich, durchlavieren könnte in einem rechtsstaatlichen Sinne.
Gesprächsleiter Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder: Herr Schroth,
vielen Dank für Ihre sehr interessanten Ausführungen. Allerdings haben Sie
damit die Ihnen zugewiesene Position etwas verlassen und haben Herrn
Dencker allein sitzenlassen.
Herr Jakobs hielte Ihnen entgegen, daß damit – Sie haben selber das
Trickreiche angesprochen – natürlich doch nachträglich die Strafbarkeit in
das DDR-Recht hineinprojiziert würde. Ich will dazu nicht Stellung nehmen.
Ich bin nur Gesprächsleiter. Ein schärferer Gegner würde auch gegen Ihr
Verfahren einiges einzuwenden haben.
Herr Hoffmann, meinen Sie, daß noch nicht alle Argumente Pro vorgebracht
worden sind? Können Sie uns noch um weitere Argumente bereichern?
Ulrich Hoffmann: Herr Schroeder, meine Damen und Herren, ich bin hier
ja als der Mann der praktischen Seite eingeführt worden. Sie, jedenfalls Sie,
Herr Professor Dencker, werden es einem Anwalt sicherlich nicht verübeln,
wenn er hier einen nötigen Schuß Polemik hineinbringt, aber, wie ich meine,
mit dem richtigen Hintergrund.
Als Anwalt lebt man, jedenfalls gelegentlich, von der Taktik, in Verfahren, die
letztlich aussichtslos sind, auf die Karte der Verzögerung zu setzen oder zu
setzen zu versuchen. Ich habe den Eindruck, daß das, was die Täter auf der
DDR-Seite vorbringen, auch was ihre Verteidiger vorbringen, nichts anderes
als Verzögerung ist. Ich bin zwar nicht überrascht, aber gleichwohl – ich
nehme das Zauberwort der heutigen Zeit – betroffen darüber, daß deutsche
Professoren diese Verzögerungstaktik mitmachen.
Diese Verzögerung wird nicht fruchten. Ich habe nicht den geringsten Zweifel
daran, daß die Revisionsentscheidungen zu den Mauerschützenprozessen so
ausgehen, wie es das Urteil im ersten Mauerschützenprozeß vorgegeben hat.
Verzögerung spreche ich auch deshalb an, Herr Dencker, weil ich mich zu
fragen beginne, ob wir denn aus der Geschichte eigentlich überhaupt nichts
gelernt haben und alle die Fragen, die bereits beantwortet gewesen sind, neu
stellen. Was Sie hier tun, Herr Dencker, was Sie und andere tun, das ist, die
Frage nach dem formalen Rechtsstaatsprinzip zu stellen. Wenn diese Frage die
umfassende wäre, dann wären die Nürnberger Rassengesetze legitim; denn sie
waren Gesetze.
(Beifall – Zuruf: Das ist der Punkt!)
Wir wissen beide, daß dazu das materiale Rechtsstaatsprinzip zu treten hat,
und das ist die Frage danach, ob das gesetzte Recht legitim ist. Das gesetzte
Recht ist immer nur dann legitim, wenn es im Sinne einer höherrangigen Idee
von Gerechtigkeit und Billigkeit Bestand hat.
Deshalb ist auch die Frage nach der Auslegung des Grenzgesetzes keine
Brücke – auch Sie, Herr Kollege, verlassen da die Frage der Legitimität –; es
geht vielmehr grundsätzlich darum, daß wir verlangen müssen und dürfen –
so hat man auch im Mauerschützenprozeß entschieden –, daß gesetztes krimi-
nelles Unrecht dann nicht befolgt werden muß, wenn der Unrechtscharakter
einsehbar gewesen ist – sehr allgemein formuliert; wir brauchen das unter uns
nicht zu vertiefen.
Was mich fast schon angenehm überrascht – auch das sage ich ein wenig
polemisch –, ist die Tatsache, daß hier auf dem Forum wenigstens Einigkeit