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Wahlperiode 13, Band I, Seiten 234 und 235
234
Enquete-Kommission

richtete Generalstaatsanwaltschaft II ist dies immer wieder augenfällig gewor-
den.

Negativ schlägt für die unmittelbar Betroffenen die lange Dauer der einzelnen
Verfahren ebenso zu Buche wie die Dauer des Gesamtvorgangs. Beides ist
dem Rechtsstaat nicht zuträglich. Die Öffentlichkeit mußte sich über ein knap-
pes Jahrzehnt hinweg kontinuierlich mit der justitiellen Aufarbeitung der SED-
Diktatur und der Überwindung ihrer Folgen auseinandersetzen. Auf diese Wei-
se leistet gerade die strafrechtliche Aufarbeitung durch die Feststellung zeithi-
storisch wichtiger Sachverhalte faktisch auch einen wichtigen Beitrag zur ge-
sellschaftlichen Bewußtseinsbildung, ohne daß es dabei entscheidend auf die
Anzahl der rechtskräftigen Verurteilungen oder die Höhe der jeweils ausge-
worfenen Strafen ankäme.

 

3.2 Rechtsvergleichende Betrachtung der justitiellen Aufarbeitung von
nationalsozialistischem Unrecht einerseits und dem Unrecht der SED-Diktatur
andererseits

3.2.1 Allgemeines

3.2.1.1 Zwischen der Aufarbeitung der NS-Diktatur und der SED-Diktatur
durch die Bundesrepublik Deutschland und ihre Organe bestehen grundlegen-
de historische und soziologische Unterschiede, die auch für den rechtlichen
Umgang mit der je vorrechtsstaatlichen Vergangenheit von entscheidender
Bedeutung sind. Während die Deutschen sich von der NS-Diktatur nicht aus
eigener Kraft befreien konnten und mit allen ihren Eliten mehr oder weniger
stark in das zwischen 1933 und 1945 etablierte Regime verstrickt waren, er-
folgte die Befreiung von der SED-Diktatur nicht zuletzt durch den Mut und die
Entschlossenheit der Deutschen in der DDR. Ihre friedliche Revolution, von
der weitaus überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung getragen, gipfelte im
Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Für die Bereitschaft zur
umfassenden Aufarbeitung der SED-Diktatur ist dies von entscheidender Be-
deutung, zumal die Verantwortlichen für das regimegestützte Unrecht in der
DDR im vereinten Deutschland eine abgrenzbare Gruppe sind. Mit den Trä-
gern der friedlichen Revolution sowie den politischen, administrativen und
wirtschaftlichen Fachleuten aus Westdeutschland stand nach 1990, anders als
nach 1945, eine unbelastete Elite zur Verfügung, die eine seriöse Aufarbeitung
der SED-Diktatur ermöglichte, ohne daß der institutionelle oder wirtschaftliche
Aufbau in den neuen Ländern dadurch beeinträchtigt worden wäre.

Anders als nach 1945 war die Aufarbeitung der SED-Diktatur auch nicht von
außen oktroyiert. Die Oppositionsgruppen und die neuen Parteien haben sehr
früh über die Machenschaften und die Strukturen des MfS informiert und auf-
geklärt. Der Druck und die öffentlich erhobenen Forderungen nach einer Straf-
verfolgung Verantwortlicher des SED-Regimes wurde so groß, daß selbst die
Träger des alten Regimes sich veranlaßt sahen, bereits im Jahr 1989 mit der

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Schlußbericht

strafrechtlichen Verfolgung zu beginnen. Der „zeitweilige Ausschuß der
Volkskammer zur Überprüfung von Fällen des Amtsmißbrauchs, der persönli-
chen Bereicherungen und anderen Verdachts der Gesetzesverletzung“, der sich
am 22. November 1989 unter Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des Obersten
Gerichts der DDR, Heinrich Toeplitz, konstituiert hatte, konnte nicht zuletzt
wegen Verstrickungen seiner Mitglieder mit dem Systemunrecht den erhobe-
nen Forderungen nicht genügen. Zwar wurden 1990 wegen Wahlfälschungs-
delikten die ersten Anklagen erhoben. Während jedoch die im Oktober begon-
nene Strafverfolgung zunächst nur auf die Präsentation von „Bauernopfern“
zur Sicherung der Stellung der SED abzielte, wurde im Frühjahr 1990 durch
die demokratisch gewählte Volkskammer der DDR und die Strafverfolgungs-
behörden der DDR eine systematische justitielle Aufarbeitung eingeleitet. Ob-
gleich es vor dem 3. Oktober 1990 nur zu sehr wenigen Verurteilungen kom-
men konnte, ist die intensive Strafverfolgung durch DDR-Staatsanwaltschaften
im Jahr 1990 mit den Schwerpunkten der Wirtschaftsdelikte und der Wahlfäl-
schung beachtlich, bedenkt man dabei deren problematische personelle Beset-
zung und die wegen der unsicheren Berufsaussichten allmähliche schwindende
Motivation der Ermittler.

3.2.1.2 Auch die anders geartete weltpolitische Lage dürfte bis zu einem ge-
wissen Grad mit dafür verantwortlich sein, daß die Aufarbeitung der SED-
Diktatur durch den deutschen Rechtsstaat insgesamt beherzter und erfolgrei-
cher in Angriff genommen werden konnte, als dies nach 1945 hinsichtlich der
NS-Diktatur der Fall war. Bei der juristischen Vergangenheitsbewältigung
nach dem II. Weltkrieg überlagerte der sich schnell verschärfende Ost-West-
Konflikt schon bald die rechtlichen, moralischen und ethischen Fragen zum
Umgang mit dem NS-Unrecht. Im Unterschied zu damals findet die juristische
Aufarbeitung des SED-Unrechts in einer Zeit ohne äußere Bedrohung
Deutschlands statt. Es gibt funktionierende rechtsstaatliche Strukturen und eine
funktionierendes Gerichtswesen, das sich auf die anstehenden Rechtsfragen
konzentrieren kann, ohne zu tagespolitischer Folgenberücksichtigung gezwun-
gen zu sein.

 

3.2.2 Problem der personellen Kontinuität

Während die personelle Kontinuität des Justizpersonals in den westlichen Be-
satzungszonen nach 1945 weitestgehende Verständigungsmöglichkeiten zwi-
schen Richtern und Angeklagten sicherte, fehlt es an solchen bei der Bewälti-
gung der SED-Diktatur. Die Richter, die über diese zu befinden haben bzw.
hatten, kommen i. d. R. aus einer anderen Gesellschaftsordnung; ihnen ist die
persönliche wie gesellschaftliche Situation, in der sich die Angeklagten oder
Beklagten befanden, mehr oder weniger fremd. Während nach 1945 das aus
persönlicher Erfahrung gespeiste Wissen um den Druck, die Verführungen und
die Ängste dieser Zeit eine grundlegende Verständnisbereitschaft förderte, und
es den Richtern leicht fiel, die Rollen zu tauschen, kennzeichneten i. d. R.
emotionale Distanz und Nüchternheit die Situation nach 1990.