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stehen zu dem, was in der DDR jemals zur Anwendung der Gesetze gedacht
oder geschrieben worden ist. Die Beispiele ließen sich fortführen. In gewisser
Weise legitimiert der Bericht die Ungleichbehandlung großer ostdeutscher Be-
völkerungsgruppen und der „Rechtsstaat“ wird als das So-Sein-Sollende ver-
klärt. Keineswegs dokumentiert der Einigungsprozeß die Leistungsfähigkeit
des Rechtsstaates. Richtig ist vielmehr: Wenn die „Einheit“ so vollzogen wer-
den sollte, wie sie vollzogen worden ist – nämlich als machtpolitisch von oben
dominierte Rückabwicklung der einen Gesellschaftsordnung durch die an-
dere –, mußte der Rechtsstaat auf vielen Feldern suspendiert werden. Die
praktische wie (rechts-) theoretische Rechtfertigung dessen stellt letztlich die
wertorientierende Wirkung des Rechtsstaatsprinzips für die Gesellschaftsge-
staltung insgesamt und für die im Rahmen gesellschaftlicher Umbrüche insbe-
sondere in Frage.
Wenn suggeriert wird, daß der Einigungsprozeß „erfolgreich“ nur unter be-
achtlichen Abstrichen von Rechtsstaatlichkeit realisiert werden konnte, anstatt
seine Normen und Prinzipien strikt anzuwenden, dann bedeutet das eine Rela-
tivierung seiner Leistungsfähigkeit, die auf Dauer eine zweifelnde, wenn nicht
gar ablehnende Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zu diesem zur Folge
haben kann. Rechtsstaatliches Denken der Bürgerinnen und Bürger wird in ho-
hem Maße durch rechtsstaatliches Denken und Handeln der Vertreterinnen und
Vertreter der Parteien und des Staates befördert. Vielleicht liegt in diesem Pro-
blem auch die bereits mangelnde Akzeptanz im Osten begründet!?
Stellungnahme der Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
sowie der Sachverständigen Fricke, Huber, Jacobsen, Maser, Moreau und
Wilke zu dem vorstehenden Sondervotum
Das Sondervotum der PDS ist aufschlußreich. Es disqualifiziert sich insbeson-
dere aus zwei Gründen: In ihrer Argumentation zur „Willkürjustiz“ und zum
Rückwirkungsverbot verharrt die PDS auf längst überholten rechtspolitischen
Positionen.
Sie ignoriert bewußt, daß die Frage der strafrechtlichen Ahndung von Regi-
meunrecht schon seit der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechts-
konvention nicht mehr mit rein innerstaatlichen Maßnahmen bewältigt werden
kann. Die PDS nimmt auch nicht zur Kenntnis, daß die internationale Dimen-
sion des Menschenrechtsschutzes im Gefolge der Tribunale der Vereinten Na-
tionen zum ehemaligen Jugoslawien und zu Ruanda besondere Aktualität und
Überzeugungskraft gewonnen hat.
Der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland hat diese Entwicklung gefördert;
er befindet sich insofern nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern auch im Ein-
vernehmen mit den internationalen Standards des Menschenrechtsschutzes.
Daß die PDS ihre vorgeblich rechtsstaatlichen Bedenken zudem politischem
Zweckmäßigkeitskalkül unterordnet, zeigt ihre in sich widersprüchliche Hal-
tung zur Aufarbeitung der NS-Diktatur einerseits und der SED-Diktatur ande-
rerseits.
Besonders bedrückend aber ist es, daß sich das PDS-Sondervotum mit keiner
Silbe zur Situation der Opfer der SED-Diktatur äußert. Sie spielen im Denken
der PDS offensichtlich keine Rolle. Das unterstreicht in beklemmender Weise
eine weitgehend ungebrochene Kontinuität zwischen SED und PDS.
Stellungnahme der Mitglieder der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie der Sachverständigen Burrichter, Faulenbach,
Gutzeit, Kowalczuk und Weber zu dem vorstehenden Sondervotum
Das Sondervotum der PDS ist aufschlußreich. Es disqualifiziert sich insbeson-
dere wegen seiner Argumentation zur „Willkürjustiz“. Beschämend wie unkri-
tisch ist die für die heutige Geisteshaltung der PDS bezeichnende Fragestel-
lung, ob denn „jede in der DDR straffällig gewordene Person heute als ,Opfer‘
beurteilt und geehrt werden“ muß. Besonders bedrückend ist dabei die Ten-
denz, die politischen Opfer zu bagatellisieren und zu relativieren, um auf diese
Weise die Unrechtsdimension des SED-Systems zu verharmlosen.
3.4 Zusammenfassung und Resümee
3.4.1 Allgemeines
Die begrenzte Wirkkraft juristischer Aufarbeitung einer diktatorischen Ver-
gangenheit ist kein deutsches Phänomen. Das hat insbesondere der Vergleich
mit den Aufarbeitungsbemühungen ergeben, die die Staaten Mittel- und Osteu-
ropas nach dem Sturz der kommunistischen Herrschaft unternommen haben.
Das zentrale rechtliche Problem der Aufarbeitung der Vergangenheit scheint
darin zu liegen, daß der Rechtsstaat über kein umfassendes Instrumentarium
zum Umgang mit der ihm vorausliegenden Diktatur verfügt und revolutionären
Gerechtigkeitserwartungen bis zu einem gewissen Grade hilflos gegenüber-
steht.
Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, die jede staatliche Aufga-
benerfüllung nur mit dem rechtsstaatlichen Instrumentarium betreiben kann,
auch die Aufarbeitung einer Diktatur. Insoweit sind alle an der Aufarbeitung
beteiligten Staatsorgane ausnahmslos an die Grundrechte, die gerichtlichen
Verfahrensgarantien, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrau-
ensschutzes gebunden, gilt die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung u. a. m.
Die begrenzte Leistungsfähigkeit des Rechtsstaates macht aber deutlich, daß
die juristische Aufarbeitung der SED-Diktatur nur ein Aspekt ihrer Bewälti-
gung ist, der durch politische, historische, bildungsbezogene und mediale Auf-
arbeitungsbemühungen ergänzt werden muß.