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2. Rolle und Aufgabe der historischen Deutschlandforschung im Prozeß der
deutschen Einheit
2.1 Gegenwärtiger Stand
Fast acht Jahre nach der deutschen Einheit kann die historische Deutschland-
forschung bereits beachtliche Ergebnisse vorweisen, und zwar aus zwei Grün-
den: Es gab bereits vor 1990 wichtige und vielfältige Untersuchungen zur
DDR; seit 1990 ist erstmals in deren Archiven Einsicht in die „geheimen“
schriftlichen Hinterlassenschaften möglich.
Wegen der verordneten „Parteilichkeit“ der DDR-Historiker, ihrer Legenden,
Auslassungen und Fälschungen, aber auch wegen fehlender innerdeutscher
Kommunikation kam der westdeutschen historischen Deutschlandforschung
die Aufgabe zu, gewissermaßen in Stellvertreterfunktion die DDR-Geschichte
zu schreiben. Dabei stand sie vor zwei größeren Schwierigkeiten: Nur in selte-
nen Ausnahmefällen war Quellenmaterial zugänglich, und es waren zu wenige
Zeithistoriker, die sich der Thematik annahmen.
Die Bedeutung der „alten“ westlichen DDR-Forschung ist teilweise umstritten.
Sie war pluralistisch angelegt. Doch durch die Geheimhaltungspraxis der DDR
war die Forschung erheblich erschwert. Wenn bestimmte Bereiche (etwa die
Rolle der Opposition oder der Repressionsapparat) zu wenig bearbeitet wur-
den, hatte das unterschiedliche Gründe. Im Totalitarismuskonzept hatte Oppo-
sition kaum Bedeutung, ebenso unterschätzte die „systemimmanente“ Be-
trachtung die Opposition.
Es gab bei der deutschen Vereinigung einen respektablen, aber doch teilweise
unzureichenden Forschungsstand. Wesentliche Bereiche, Etappen und Proble-
me der DDR-Geschichte, vor allem aber der Frühphase der SBZ/DDR, wurden
sowohl in Gesamtdarstellungen als auch in Monographien analysiert. Metho-
den wie Wertungen waren aufgrund des Pluralismus der westlichen Zeitge-
schichtsforschung durchaus verschieden.
Seither hat die historische Deutschlandforschung an Umfang und Gewicht er-
heblich gewonnen. Das im Jahr 1997 erschienene „Vademekum zur DDR-For-
schung“ zeigt, wie stark die DDR-Forschung schon in der Wissenschaftsland-
schaft verankert ist; es gibt einen Überblick über die Forschungseinrichtungen,
Bibliotheken, Archive usw. Damit ist überzeugend belegt, daß sich die Erfor-
schung der DDR-Geschichte insgesamt gesehen auf ein solides Fundament
stützen kann.
Das Interesse der Wissenschaft für die zeithistorisch und sozialwissenschaft-
lich orientierten Forschungen zur DDR-Geschichte wuchs rasch. Die universi-
täre und außeruniversitäre Forschung geht auch im achten Jahr der deutschen
Einheit ungebrochen weiter. Über 1.000 einschlägige Forschungsvorhaben
konnten seit 1990 registriert werden. Gegenwärtig dürfte es mehr als 500 For-
scherinnen und Forscher geben, die sich mit den unterschiedlichsten Aspekten
der SED-Diktatur beschäftigen. Interessanterweise verteilen sich die laufenden
Projekte zu jeweils einem Drittel auf die alten und die neuen Länder sowie auf
Berlin.
Bemerkenswert ist, daß die Akademisierung der DDR-Forschung voran-
schreitet. Rund ein Drittel der Bearbeiter sind promoviert. Die wachsende Zahl
der Dissertationen dokumentiert ebenfalls das Interesse der Wissenschaft. Bei
den neuen Projekten zwischen 1990 und 1997 stellen Doktoranden mit 107 ein
Drittel aller Bearbeiter; zur Zeit sind zudem 15 Habilitationsschriften in Ar-
beit. Bedeutsam ist, daß die Hälfte aller Projekte an Universitäten angesiedelt
ist, ein Drittel an universitätsnahen Institutionen.
Es haben sich neue Institutionen herausgebildet, in deren Mittelpunkt die Er-
forschung der DDR-Geschichte steht, z. B. die Abteilung Bildung und For-
schung des BStU, das Institut für Zeitgeschichte – Außenstelle Berlin, das
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, das Hannah-Arendt-Institut
für Totalitarismusforschung in Dresden und der Forschungsverbund SED-Staat
an der FU Berlin.
Gleichzeitig beschäftigen sich zahlreiche unabhängige Aufarbeitungsinitiati-
ven und Opferverbände, deren Mitgliedern in vielen Fällen eine akademische
Ausbildung vorenthalten wurde, mit der Erforschung der SED-Diktatur, insbe-
sondere auf regionalgeschichtlicher Ebene.
An den Universitäten wurde die Erforschung der DDR-Geschichte in den
letzten Jahren ausgedehnt. Schwerpunkte liegen bei politikwissenschaftlichen,
germanistischen und zeitgeschichtlichen Instituten und Lehrstühlen. Aber auch
Geographen, Pädagogen, Wirtschafts- und Medizinhistoriker befassen sich mit
der historischen Deutschlandforschung. Als relativ gut bearbeitet können fol-
gende Themenfelder genannt werden: Politikgeschichte, Verfassungs-, Ideolo-
gie- und Literaturgeschichte sowie die Bildungs-, Frauen- und Jugendpolitik
der ersten Jahrzehnte der DDR-Entwicklung. Hier lagen zum Teil bereits we-
sentliche Untersuchungen vor oder sind seit 1990 entstanden bzw. aufgrund
des Aktenzugangs ergänzt worden.
Doch Desiderata bestehen weiter. Generell befindet sich die vergleichende
Diktaturforschung noch immer in den Anfängen. Ähnliches gilt für die Analy-
se der Entscheidungsprozesse in der SED-Spitze und vor allem deren Hand-
lungsspielraum gegenüber Moskau (s. Teil B.IX.2.1.3.). Auffallend ist, daß
ausgerechnet die SED, deren Führung
die Diktatur ausübte (aber auch die Blockparteien und Massenorganisationen,
auf die sie sich dabei stützte), immer noch relativ geringe Aufmerksamkeit in
der Forschung findet (mit Ausnahme der Frühphase). Wenig untersucht sind u.
a. die Verzahnung der Entwicklung beider deutscher Staaten und die Außen-
politik der DDR (s. Teil B.IX.2.1. und Teil B.IX.2.3.).