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Wahlperiode 13, Band I, Seiten 660 und 661
660
Enquete-Kommission

1. Die beiden deutschen Staaten im internationalen System

Am Ende eines Jahrhunderts der Weltkriege und totalitären Diktaturen steht
Europa vor neuen historischen Möglichkeiten. Der Zusammenbruch des kom-
munistischen Imperiums und das Verschwinden des Eisernen Vorhangs haben
den Weg geöffnet zu einer auf Freiheit und Demokratie gegründeten europäi-
schen Friedensordnung. Die Stützpfeiler dieser Ordnung, Atlantische Allianz,
Europäische Union, Europarat und OSZE, sind im Begriff, ihre Strukturen und
Aufgaben diesen neuen Herausforderungen erfolgreich anzupassen.

Besonders für Deutschland bedeuten der Sturz der SED-Diktatur durch die
friedliche Revolution im östlichen Teil des Landes und die Wiedergewinnung
der staatlichen Einheit auf dem Boden des Grundgesetzes einen historischen
Einschnitt. Die Deutschen leben heute in einer stabilen Demokratie, in gesi-
cherten Grenzen und in friedlichen, größtenteils sogar freundschaftlichen Be-
ziehungen mit den Großmächten und mit allen europäischen Nachbarn. In die-
ser historisch neuartigen Konstellation liegt auch für das vereinte Deutschland
die Chance einer stabilen friedlichen und demokratischen Entwicklung in der
Mitte des sich einigenden Europa. Um diese Chance zu nutzen, ist es notwen-
dig, die historischen Erfahrungen dieses Jahrhunderts und die aus ihnen resul-
tierenden politischen Konsequenzen im Bewußtsein zu halten.

Nach seiner totalen militärischen und moralischen Niederlage war das Deut-
sche Reich am Ende des Zweiten Weltkriegs den Sieger- und Besatzungs-
mächten bedingungslos ausgeliefert. Ein souveräner deutscher Nationalstaat
existierte nicht mehr. Die Alliierten übernahmen im Juni 1945 die oberste Re-
gierungsgewalt in Deutschland, ohne daß damit Deutschland als Völkerrechts-
subjekt ausgelöscht worden wäre. Die gegensätzlichen Zielsetzungen und wi-
derstrebenden Interessen der Siegermächte verhinderten indessen, daß die ge-
meinsam vereinbarte einheitliche Behandlung Deutschlands durchgesetzt wur-
de. Millionen Deutsche hatten ihre Heimat im Osten verloren. Die Einteilung
in Besatzungszonen verfestigte sich zur staatlich-politischen Teilung.

Die beiden Staaten im geteilten Deutschland hatten einen unterschiedlichen
Status. Der SED-Staat war eine Diktatur, die auf dem totalitären Machtwillen
der Führungen der sowjetischen und deutschen Kommunisten basierte. Er ge-
wann kaum die angestrebte innere Festigkeit, vielmehr blieb er auf einen sich
ständig ausweitenden Repressionsapparat angewiesen. Die Grundlage für die
äußere Stabilität des Systems gewährleistete in erster Linie die von der So-
wjetunion gegebene Existenzgarantie, wie dies die Ereignisse von 1953, beim
Berliner Mauerbau 1961 und – unter anderem Vorzeichen – bei dem Zusam-
menbruch der SED-Herrschaft bewiesen haben.

Im Westen Deutschlands entstand mit der Gründung der Bundesrepublik
Deutschland eine freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie, die sich als
demokratischer Kernstaat verstand. Dieser hielt am Ziel der Rückgewinnung
deutscher Souveränität fest. Zugleich fand er Schutz und Sicherheit durch feste
Einbindung in die atlantische Allianz und die entstehende Europäische Ge-

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Schlußbericht

meinschaft. Diese Integration wurde von der Regierung Adenauer als eine hi-
storische Achsendrehung verstanden, um einen möglichen Rückfall Deutsch-
lands in eine nationalstaatlich zentrierte „Schaukelpolitik“ zwischen Rußland
und den Westmächten zu verhindern. Zudem wollte die Bundesrepublik
Deutschland dadurch den notwendigen Rückhalt und die Unterstützung ihrer
westlichen Partner gewinnen, ohne die eine Wiedervereinigungspolitik gegen-
über der Sowjetunion von vornherein aussichtslos erscheinen mußte.

Der bipolare, zugleich machtpolitische und ideologische Konflikt der beiden
Weltmächte und ihrer Bündnisse im Schatten der Atomwaffen war das domi-
nierende Strukturmerkmal der internationalen Rahmenbedingungen in der
zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Verbunden war damit ein Wettkampf der Sy-
steme, den der Westen um eine friedlichere, freiheitlichere, humanere und so-
zio-ökonomisch effektivere Lebensordnung führte. Dieser hatte im geteilten
Deutschland einen seiner Brennpunkte. Angesichts der wachsenden Konfron-
tation zwischen Ost und West (Berlin- und Kubakrisen) im Zeichen nuklearer
Bedrohungen und schwieriger werdender Aufgaben in der Weltwirtschaft so-
wie der Festigung des Status quo suchten die verantwortlichen Politiker nach
Mitteln, die allseitigen Spannungen unter Kontrolle zu bringen und Felder ge-
meinsamer Interessen abzustecken.

Neue Wege hierzu wiesen die kooperative Rüstungssteuerung im Bereich der
Nuklearwaffen der Weltmächte und die Entspannungspolitik, die in den Ost-
verträgen der Bundesrepublik Deutschland und der KSZE-Schlußakte von
Helsinki ihren sichtbarsten Ausdruck fand.

Die deutschlandpolitische Zielsetzung der Bundesrepublik Deutschland war
von Anfang an in der Trias der Leitbegriffe „Freiheit, Frieden, Einheit“ gefaßt.
Freiheit war dabei der Grundwert und der Kern der deutschen Frage, Selbstbe-
stimmung die dem Ziel der Wiedervereinigung zugrunde liegende Norm. Dies
schloß eine Wiedervereinigung unter kommunistischen Vorzeichen aus. Bei
dem Streben nach der deutschen Einheit im Rahmen der europäischen Integra-
tion war die Unterstützung durch die westlichen Verbündeten unentbehrlich.

Im Deutschlandvertrag, eine der zukunftweisenden Leistungen der West- und
Deutschlandpolitik der Regierung Adenauer, hatten sich die drei Westmächte
bereits Anfang der fünfziger Jahre verpflichtet, sich für eine Politik der Wie-
dervereinigung in Frieden und Freiheit einzusetzen. Somit war klargeworden,
daß eine Lösung der deutschen Frage die Überwindung des Ost-West-
Konfliktes voraussetzte.

Auch die SED-Führung ging ursprünglich von dem Anspruch aus, mit dem
von ihr beherrschten Staat den Kern und das Modell eines künftigen (soziali-
stischen) Gesamtdeutschland errichten zu wollen. Vor dem Hintergrund ein-
setzender Fluchtbewegungen, innerer Krisen und erkennbarer Abhängigkeit
von der sowjetischen Führung erwies sich ein solcher jedoch als wenig über-
zeugend. Stattdessen sah sich die SED-Führung genötigt, zunächst einmal um
völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Staates zu ringen, um so