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Nur vier Jahre nach dem Ende von Krieg und NS-Diktatur gegründet, waren
beide deutschen Staaten gefordert, ihre Politik gegen die unmittelbar zurück-
liegende Vergangenheit zu formulieren. Das kommunistische Regime sprach
die Deutsche Demokratische Republik unter Berufung auf die widerständige
Rolle der deutschen Kommunisten während der nationalsozialistischen Herr-
schaft von jeder nationalen Verantwortung frei. Darüber hinaus nutzte es den
„verordneten Antifaschismus“ gegen die Demokratie, indem es mit ihm eine
neue Diktatur legitimierte. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen suchte
der nationalen Verantwortung durch weichenstellende Entscheidungen zugun-
sten der Demokratie und der Neusituierung Deutschlands in Europa gerecht zu
werden.
Wie virulent die historischen Hypotheken im Bewußtsein unserer Nachbarn
sind, erfuhren die Deutschen 1989/90, als es um die Einheit ihres Landes ging.
Auch heute ist das Bild Deutschlands in der Wahrnehmung der Nachbarn im-
mer auch mit dem Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden.
Der Weg, wie das vereinte Deutschland seine Aufgaben im Innern meistert
und seine Interessen nach außen wahrnimmt, wird weiterhin mit besonderer
Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Ausländerfeindliche oder rechtsra-
dikale Tendenzen werden, wenn sie in Deutschland auftreten, besonders sorg-
fältig registriert. Besorgnis lösen ebenfalls die Aktivitäten der SED-Nachfol-
gepartei PDS aus. Das europapolitische Engagement der Deutschen wird häu-
fig auch unter dem Gesichtspunkt beobachtet, ob Deutschland zu Alleingängen
neigt, ob es versucht, mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Kraft eine dominierende
Rolle einzunehmen. Deutschland hat, mit der Beseitigung seiner unnatürlichen
Teilung, ein Stück Normalität wiedergewonnen, aber es muß im eigenen Inter-
esse darauf bedacht sein, Mißverständnisse zu vermeiden und, ohne Hintan-
stellung berechtigter Interessen, mit den historischen Erinnerungen seiner
Nachbarn sensibel umzugehen.
Zugleich ist der antitotalitäre Konsens eine wichtige Voraussetzung für die
Wahrnehmung internationaler Verantwortung auch und gerade im Hinblick auf
die Menschenrechtsfrage. Die Erfahrung mit den kommunistischen Diktaturen
im östlichen Teil Europas und ihrem Zusammenbruch hat gelehrt, daß das ent-
schiedene Eintreten für Menschenrechte für die Außenpolitik demokratischer
Staaten nicht nur eine wünschenswerte Ergänzung, sondern ein – auch im
wohlverstandenen Eigeninteresse liegendes – elementares Anliegen ist. Wirk-
liche Stabilität haben nur solche Friedensordnungen, die auf der freien Zu-
stimmung der betroffenen Menschen und Völker beruhen. Freiheit, Menschen-
rechte und Selbstbestimmung mit Grundsatztreue, erforderlichenfalls mit Ge-
duld und langem Atem und mit der erforderlichen Flexibilität in den jeweils
angemessenen Methoden zu erstreben, ist daher eine fundamentale Maxime
demokratischer Außenpolitik.
Nicht zuletzt ist die Stärkung des antitotalitären Konsenses eine Aufgabe für
die auswärtige Kulturpolitik und für jene gesellschaftlichen Initiativen, die ei-
nen Beitrag zur Demokratisierung und damit zur Stabilisierung der Länder in
Ostmittel- und Osteuropa zu leisten versuchen. In diesen Ländern wird es,
ebenso wie in Deutschland, künftig entscheidend darauf ankommen, die Erfah-
rungen totalitärer Herrschaft und des Widerstandes gegen die Unrechtssysteme
auch der jüngeren Generation gegenüber nachhaltiger zu vermitteln. Die aus-
wärtige Kulturpolitik sollte diesem Ziel entsprechende Maßnahmen ergreifen
und kontinuierlich überprüfen. Den Partnerländern und Einrichtungen müssen,
wenn und soweit sie selbst es wünschen, weitere Mittel aufgezeigt und Wege
gemeinsam mit ihnen beschritten werden – zum Beispiel durch verbesserte In-
formation übereinander, Dialog miteinander und Hilfsangebote für die Bil-
dungseinrichtungen –, um die Bedeutung des antitotalitären Konsenses für ein
Europa in Freiheit sichtbarer zu machen, diesen Konsens zu verinnerlichen und
vor Gefährdungen zu bewahren. Dies ist und bleibt eine der vorrangigen Auf-
gaben demokratischer Gesellschaften in unserer Zeit.
Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD und der Sachverständigen
Burrichter, Faulenbach, Gutzeit und Weber Die Rolle Deutschlands
angesichts historischer Belastungen und gegenwärtiger Aufgaben
A) | Zum Charakter des Sondervotums |
B) | Zur gegenwärtigen Lage Deutschlands – Probleme und Fragen vor dem Horizont der Geschichte |
C) | Fragen zur Außenpolitik |
1. | Die deutsche Vereinigung und die Gestaltung Europas |
2. | Das deutsch-polnische Verhältnis |
3. | Das deutsch-tschechische Verhältnis |
4. | Die Frage der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus in Osteuropa |
5. | Nachwirkungen der DDR-Entwicklungspolitik |
D) | Fragen zum deutsch-deutschen Verhältnis |
1. | Handlungsspielräume der SED-Politik gegenüber der UdSSR |
2. | Der Kampf der SED gegen innere und äußere Feinde – das Beispiel der Auseinandersetzung mit dem „Sozialdemokratismus“ |
3. | Deformationen im Westen – die Rolle des politischen Strafrechts in der Nachkriegszeit |
4. | Die Transformation der deutschen politischen Kultur seit dem Zwei- ten Weltkrieg |
E) | Folgerungen für Gegenwart und Zukunft Deutschlands in Europa |
1. | Die Bedeutung historischer Hypotheken |
2. | Die Frage des Umgangs mit Diktaturen und die Durchsetzung der Menschenrechte in der internationalen Politik |
3. | Der Aufbau einer demokratischen politischen Kultur und eines ge- meinsamen Geschichtsbewußtseins in Europa |