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Wahlperiode 13, Band III/1, Seiten 276 und 277
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Protokoll der 29. Sitzung

nannten Arbeiter- und Bauernstaat diese alte Grundüberzeugung der deutschen
Arbeiterbewegung nicht nur vergessen, sondern auch grob verletzt. Sie stand
daher nicht in dieser Tradition, sondern verstieß gegen sie. Diesen Umstand
werden wir nicht vergessen. Daran wird uns auch der heutige Nachmittag erin-
nern, wenn wir über die Erfahrungen im sozialen Leben der Menschen nach
1989 diskutieren.

Wir sind froh, daß uns zu einer Einführung der Sächsische Staatsminister für
Soziales, Gesundheit und Familie, Herr Dr. Geisler, zur Verfügung stehen
wird. Mit Berichten aus vielfältigen Bereichen wollen wir anschließend von
Praktikern ihre konkreten Erfahrungen mit der Gesellschaft im Umbruch hö-
ren. Manche Erfahrungen seit 1989 sind eher zwiespältig. Viel zu viele Men-
schen sind arbeitslos geworden. Vor allem Frauen und ältere Menschen und
zahlreiche Jugendliche finden keinen Ausbildungsplatz. Plattenbausiedlungen
und leerstehende Jugendclubs malen eine eher düstere Perspektive hinter der
die gewonnene Freiheit zu verschwinden droht. Hier werden wir offen mitein-
ander diskutieren müssen. Was sind die Spätfolgen der DDR, wo fehlt es den
Westdeutschen an offenen Ohren und Herzen für die Lebenssituation ihrer ost-
deutschen Landsleute? Es geht auch um die Beantwortung der Frage, was ha-
ben wir seit 1990 falsch gemacht, und wo und wie müßten wir jetzt handeln?
Wir sind hier genau an dem Auftrag angelangt, den uns der Deutsche Bundes-
tag gegeben hat. Es geht um das Nachdenken und um die Erarbeitung von
Handlungsempfehlungen. Der Titel unserer Kommission mahnt uns dazu.

Fast 5 Mio. Arbeitslose und soziale Ungerechtigkeiten, auch zwischen Ost und
West, sind eine große Herausforderung für unsere Demokratie, die wir in ganz
Deutschland bestehen müssen. Welche Dimensionen an die Politik gerichtet
sind, macht das Sozialpapier der beiden christlichen Kirchen deutlich, das in
den letzten Tagen in der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und für Diskussionen
sorgt. Der Pfälzer Kirchenpräsident richtete am Wochenende deutliche Worte
zu diesem Papier an uns. Ich zitiere zwei Sätze aus seiner Mahnung: „Unsere
Demokratie“, so sagt er, „ist gefährdet und der Rückfall in die Verhältnisse
von Weimar ist durchaus denkbar.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Wir
müssen aufpassen, daß angesichts der großen Arbeitslosigkeit unsere Gesell-
schaft nicht auseinanderfällt. Die wichtigste heutige Bürgertugend ist Solida-
rität.“ Soweit der Kirchenpräsident aus der Pfalz.

In Sachsen, wie in allen anderen ostdeutschen Ländern, kommt es aber vor al-
lem darauf an, die erkämpfte Freiheit des Herbsten 1989, die Freiheit unseres
Grundgesetzes, für die Menschen wirklich erfahrbar zu machen. Dann bleibt
die Freude über Freiheit und Einheit nicht nur eine schöne Erinnerung an die
aufregenden Monate der Jahre 1989 und 1990. In diesem Sinne wünsche ich
uns auch einen erfolgreichen zweiten Tag und übergebe jetzt das Wort zu-
nächst an Herrn Professor Dr. Vollmer.

Prof. Dr. Uwe Vollmer: Sehr geehrter Herr Vorsitzender, verehrte Damen
und Herren. In der nicht-sozialistischen (westlichen) wirtschaftswissenschaftli-
chen Literatur versteht man unter Sozialpolitik alle Bemühungen des Staates,

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Wirtschaft – Sozialpolitik – Gesellschaft

die darauf abzielen, die wirtschaftliche und soziale Stellung von benachteilig-
ten Gruppen zu verbessern. In der DDR wurde der Begriff der Sozialpolitik in
den ersten Jahren nach der Staatsgründung nur selten gebraucht. Der Grund
dafür bestand darin, daß er als Sammelbegriff für all jene Maßnahmen galt, mit
denen kapitalistische Systeme die dort als systemimmanent angesehene Exi-
stenzunsicherheit der Arbeitnehmer zu verdecken versuchten. Erst in den 60er
Jahren trat der Begriff der Sozialpolitik im offiziellen Sprachgebrauch der
DDR vermehrt auf und wurde dann in den 70er Jahren mit der Formel der
„Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ offiziell zum Gütesiegel des
DDR-Sozialismus erhoben.

Ziel dieser sozialistischen Sozialpolitik war es nicht primär, staatliche Vorsor-
ge gegen die Wechselfälle des Lebens zu leisten und unverschuldet in Not ge-
ratene Personen abzusichern. Es erfolgte lediglich eine Basisabsicherung auf
niedrigem Niveau. Ziel der Sozialpolitik in der DDR war es vielmehr, die Lei-
stungsfähigkeit der Volkswirtschaft zu erhöhen und die Güterversorgung der
Wirtschaftssubjekte zu verbessern. Da die Leistungsfähigkeit einer Volkswirt-
schaft gemäß dem marxistischen Primat des Faktors Arbeit im Vergleich zum
Faktor Kapital, d. h. die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft gemäß die-
sem Primat, von der Nutzung des Faktors Arbeit abhing, zielten sozialpoliti-
sche Maßnahmen vor allem auf einen verbesserten Arbeitskräfteeinsatz und
auf eine möglichst hohe Auslastung des Erwerbspersonenpotentials ab. Inso-
fern war Sozialpolitik in der DDR im wesentlichen Arbeitspolitik, genauer
Vollbeschäftigungspolitik. Ihr Anspruch war es, durch eine rationelle Nutzung
des Faktors Arbeit das materielle und kulturelle Lebensniveau der Bevölke-
rung anzuheben. Hierin bestand der Anspruch der Sozialpolitik, und formal
gesehen genügte die Sozialpolitik in der DDR auch nach eigenen Einschätzun-
gen diesem Anspruch auf Vollbeschäftigungsgarantie vollauf. Dieser Umstand
wurde auch lange Zeit in Teilen der nicht-sozialistischen (westlichen) ökono-
mischen Literatur akzeptiert. Verwiesen wurde dabei auf das völlige Fehlen
offener Arbeitslosigkeit. Dieses Phänomen galt als eine der größten „Errun-
genschaften des Sozialismus“. Beleg hierfür lieferten die offiziellen Statisti-
ken, die nur in der ersten Dekade nach Gründung der DDR eine noch hohe,
dann allerdings sehr schnell sinkende Arbeitslosigkeit auswiesen. Ab 1961
kannte die DDR dann offiziell keine offene Arbeitslosigkeit mehr, und die oh-
nehin sehr geringe Arbeitslosenunterstützung oder auch Arbeitslosenversiche-
rung wurde zum 1. Januar 1978 abgeschafft. Begründet wurde dieses Fehlen
offener Arbeitslosigkeit mit dem Argument, daß es unter sozialistischen Pro-
duktionsbedingungen möglich sei, jedem Arbeitswilligen einen Arbeitsplatz
anzubieten und damit das „Recht auf Arbeit“ zu verwirklichen, das in der DDR
den Status eines verfassungsmäßig garantierten Grundrechts hatte.

Die Betriebe seien zu solch einer Arbeitsplatzgarantie aus zwei Gründen im-
stande: Die fehlende Gewinnorientierung erlaube es ihnen, erstens auch Perso-
nen zu beschäftigen, deren Beitrag zum Produktionsergebnis, also deren Pro-
duktivität, unterhalb des Lohnsatzes liegt. Zweitens seien die Betriebe auch
nicht gezwungen, wegen fehlender Absatzmöglichkeiten Beschäftigte entlas-