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Wahlperiode 13, Band III/1, Seiten 280 und 281
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Protokoll der 29. Sitzung

der Neueinstellungen durch direkte Anwerbungen seitens der Betriebe. Das
Instrument, mit dem die Betriebe um Arbeitskräfte konkurrierten, waren mo-
netäre Anreize in Form von Löhnen, Gehältern und Prämien. Die Höhe dieser
monetären Einkommen hing neben den zentral fixierten Tarifsätzen von der
Vorgabe betriebsspezifischer Normen und Kennziffern ab, die von den Betrie-
ben wesentlich beeinflußt werden konnten. Diese Einflußmöglichkeit nutzten
die Betriebe, um über den Tariflöhnen liegende Effektivlöhne zu zahlen und so
bereits beschäftigte Arbeitnehmer an den Betrieb zu binden oder neue Arbeits-
kräfte anzuwerben. Die Betriebe waren zu dieser Lohndrift imstande, weil sie
als Staatsbetriebe faktisch nicht in Konkurs gehen konnten. Liquiditätsabflüsse
wegen überhöhter Lohnzahlungen wurden durch außerordentliche Kredite
durch die Staatsbank finanziert. Als Resultat dieser unzureichenden finanziel-
len Disziplin der Betriebe verfügten die privaten Haushalte zwar über steigen-
de Lohneinkommen, jedoch konnten sie damit lediglich wachsende Geldbe-
stände ansammeln, denen kein genügend großes Konsumgüterangebot gegen-
über stand.

Konsequenz waren Inflationstendenzen, die aber wegen der zentral-admini-
strativen Fixierung der Güterpreise nicht offen zutage traten, sondern zurück-
gestaut wurden. Die Höhe dieses Inflationspotentials wird deutlich, wenn man
sich den zusammengefaßten Bargeld- und Sichtgeldeinlagenbestand anschaut,
der in der DDR etwa rund 113 % der Konsumausgaben betrug gegenüber nur
etwa 27 % in der Bundesrepublik. Folge solcher Ungleichgewichte zwischen
Kauf- und Warenfonds waren Konsumgüterrationierungen, die den Leistungs-
willen der Bevölkerung zerrütteten. Im Ergebnis hat damit die DDR-Sozial-
politik ihren selbst gestellten Anspruch, durch Vollbeschäftigung das Lebens-
niveau der Bevölkerung anzuheben, nicht erfüllt. Zwar konnte durch die for-
male Arbeitsplatzgarantie Sicherheit bei der Einkommensentstehung erzielt
werden, dies wurde jedoch erkauft durch eine erhebliche Unsicherheit bei der
Einkommensverwendung. Anders formuliert: Sinkende Risiken in Bezug auf
den Arbeitsplatz wurden substituiert durch erhöhte Risiken bei der Konsum-
güterversorgung, denn der Zugriff auf begehrte Konsumgüter hing – ange-
sichts von Mangelwirtschaft und Rationierungen – von solchen Zufälligkeiten,
wie Besitz von Westdevisen, Zugehörigkeit zur Nomenklatura oder anderen
persönlichen Beziehungen ab.

Mein Fazit lautet: Vielleicht empfinden Wirtschaftssubjekte solche Risiken bei
der Konsumgüterversorgung als noch unangenehmer als Risiken bei der Ein-
kommensentstehung, gegen die ja zumindestens prinzipiell eine Absicherung
in Form der Arbeitslosenversicherung möglich ist. Wenn dies zutrifft, dann
muß das Versagen der Sozialpolitik als eine der wesentlichen Ursachen für das
Scheitern der DDR angesehen werden. Vielen Dank.

Vorsitzender Siegfried Vergin: Vielen Dank Herr Professor Vollmer. Ehe
Herr Dr. Lubk das Wort ergreifen kann, will ich darauf hinweisen, daß Herr
Professor Hockerts seine Ausführungen per Fax übermittelt hat, die wir Ihnen
zur Verfügung stellen möchten (s. Anlage 8). Auf diese Weise können diese

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Wirtschaft – Sozialpolitik – Gesellschaft

Thesen nachher auch bei der Diskussion evtl. miteinbezogen werden. Herr Dr.
Lubk bitte.

Dr.-Ing. Rainer Lubk: Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, die Ar-
beits- und Sozialpolitik in der DDR ist nicht nur ein äußerst facettenreiches
Thema, es ist auch ein Thema, was in den einzelnen Entwicklungsphasen der
DDR eine unterschiedliche Bewertung verlangt. Die Arbeits- und Sozialpolitik
ist aber auch ein Thema, bei der persönliche Erfahrungen, persönliche Sichten
und die Bedingungen, unter denen sie gemacht worden sind, enorme Bedeu-
tung haben.

Wer den gestrigen Tag die Diskussion verfolgen konnte, hat hier vielleicht am
Vormittag gemerkt, wie unterschiedlich Sichten sein können. Aus der Sicht
einer zentralen Planungsbehörde, aus der Sicht eines ehemaligen Generaldi-
rektors oder auch aus der Sicht eines Absatzdirektors, stellt sich manches an-
ders dar. Nun stellen wir uns die Erlebnissicht derer vor, die in einem Unter-
nehmen Arbeiter oder Angestellte waren. Diesen Punkt halte ich für besonders
wichtig. Ich möchte auch noch einmal auf die gestrige Diskussion zurück-
kommen, bei der an einer Stelle gefragt wurde: „Warum kümmern wir uns
überhaupt um das, was gewesen ist? Schauen wir nach vorn“. Dieser Aspekt
ist natürlich immer richtig. Aber ich denke, wenn man über die Arbeits- und
Sozialpolitik in der DDR spricht, muß man sich im Klaren darüber sein, daß es
sich dabei um einen Herrschaftsmechanismus gehandelt hat, der freizulegen
ist.

Die Erkenntnisse und Erfahrungen aus dieser Zeit können in die heutige Dis-
kussion einfließen. Es geht hierbei um die Aufgaben eines Staates, um den
Stellenwert der Freiheit des Einzelnen und der Freiheitsgrade. Wenn ich an die
Veränderungen denke, die sich in der Arbeitswelt ereignen, wenn ich an die
Ängste denke, die damit auch verbunden sind, eröffnen sich viele Fragen. Ich
spreche nur einmal dieses Problem der Zunahme sogenannter Nichtnormar-
beitsverhältnisse an. Wir sind alle gewohnt, in diesen Bahnen zu denken, acht
Stunden Arbeit ein Leben lang und möglichst auch noch in der gleichen Ar-
beit. Hieraus ergeben sich viele Fragen, die Menschen verunsichern. Verunsi-
cherte Menschen fragen dann wiederum möglicherweise: Gibt es da nicht et-
was anderes, was mir meine Angst nimmt? Und sie schauen auch manchmal
zurück.

Deswegen halte ich dieses Thema für so wertvoll und bedeutsam, und ich bin
daher auch sehr dankbar, daß hier die verschiedensten Erfahrungen einge-
bracht werden können.

Meine Erfahrungen versuche ich aus der Sicht der Arbeit in einem Institut ein-
zubringen. Ich habe viele Jahre in Unternehmen Analysen auf dem Gebiet der
Entgeltfindung, der Lohngestaltung durchgeführt. Dabei blieb es natürlich
nicht außen vor, daß man sich mit all diesen Fragen, die heute hier auch zur
Debatte stehen, befassen mußte. Ich bringe auch Erfahrungen ein als einer, der
hier gelebt hat.