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ins Wasser gestoßen, weitere lassen sich treiben und träumen vergangenen
Zeiten nach, und einigen geht die Luft aus, und sie bleiben auf der Strecke.
Willy Brandt hat einmal gesagt: „Was aus einem Menschen wird, ist nicht nur
eine Frage seiner Fähigkeiten, es ist auch eine Frage seiner Chancen.“ Die
Menschen im Osten brauchen noch viele zur Hilfe ausgestreckte Hände, damit
sie wieder Boden unter die Füße bekommen. Geben Sie Ihnen eine Chance,
und schenken Sie dabei den Frauen besondere Aufmerksamkeit. Ich danke für
Ihre Aufmerksamkeit.
Gesprächsleiterin Abg. Christine Kurzhals (SPD): Ich danke Ihnen, Frau
Beyer. Ich möchte um Nachsicht bitten, Herr Vorsitzender, wir haben etwas
die Zeit überzogen, aber diese drei wirklich sehr unterschiedlichen und sehr
gegensätzlich angelegten Referate waren so interessant, und sie zeigen das
ganze Spektrum auf, daß es wert war, die Zeit etwas zu überziehen.
Jetzt möchte ich unsere Frauenrunde erweitern. Ich begrüße hier, gleich im
Anschluß zum Thema Jugend, Herrn Harald Bretschneider von der Stadtmissi-
on Dresden und Herrn Dr. Kai Schnabel, Max-Planck-Institut für Bildungsfor-
schung in Berlin. Ich möchte Sie bitten, gleich mit ihren Vorträgen zu begin-
nen.
Harald Bretschneider: Zu meiner Biographie: Ich war zwischen 1979 und
1991 Landesjugendpfarrer für das Land Sachsen und bin seitdem Leiter des
Diakonischen Werkes der Stadtmission in Dresden mit einer großen Abteilung
Jugendarbeit.
Ich denke, es ist gut, wenn wir Geschichte durch Lebensgeschichten betrach-
ten. Hierin liegt mein Anliegen. Die Lebensgeschichten, die ich im folgenden
vortragen werde, sind bunt, widersprüchlich und nicht uninteressant.
Da ist erstens Michaela. Michaela war Teilfacharbeiterin in einem „Kollektiv“
der Zündholzfabrik, manchen von uns ist diese Fabrik in Riesa noch bekannt.
Ihr Abschluß wurde nach der Wende nicht anerkannt, der Betrieb wurde ge-
schlossen. Daraufhin war Michaela lange Zeit arbeitslos. Über 40 Bewerbun-
gen führten zu keinem Ergebnis. Jetzt hat sie in dem „Sprungbrett e.V.“ in
Riesa einen Platz in einem Beschäftigungsprojekt gefunden. Sie bereitet sich
auf den Abschluß als Beiköchin vor. Sie bekundet: „Früher war die soziale
Absicherung größer, jetzt kann ich mich persönlich besser entwickeln.“ Sie ist
tatsächlich eine andere Persönlichkeit geworden.
Als nächsten Kandidaten möchte ich Frank vorstellen. Frank war schon wäh-
rend der Oberschulzeit ein Computerfreak – auch das hat es in der DDR gege-
ben. Um seines Hobbys Willen hat er alles mitgemacht, was man sich denken
konnte, auch dann, wenn es ihn persönlich angestunken hat. Nach dem Abitur
im Wendejahr ist er sofort nach Amerika gegangen. Dort hat er in der Com-
puterbranche Arbeit gefunden. Es ist ihm gelungen, ein Programm zur Zu-
schnittsoptimierung zu entwickeln, das international gefragt ist. Nach
Deutschland zurückgekehrt, hat er einen eigenen Betrieb aufgebaut. Jetzt ist er
dauernd beruflich unterwegs. Er hat kaum noch Zeit, die Freunde werden rar.
Jetzt möchte ich die Lebensgeschichte von Simon darstellen. Er hat das Gym-
nasium in der 11. Klasse abgebrochen, tauchte in der Szene in der Neustadt in
Dresden unter und brach den Kontakt zur Familie ab. Das Erziehungskonzept,
„immer schön in der Reihe bleiben“, mit der gesamten uniformen Entwick-
lung, stank ihm schon als Schüler. Der ideologische Zwang und die Erziehung
zur Zweizüngigkeit wurde von ihm abgelehnt. Auch im neuen System fragte er
sich: Wem kann ich eigentlich noch glauben? Viele Lehrer haben sich schnel-
ler gewendet, als Jugendliche es begreifen können. Nun ist er auf der Suche
nach dem Sinn seines Lebens. Dabei verläßt er sich auf die jugendlichen
Freunde in der Gruppe. Seiner Meinung nach wurde Reichtum oft nicht erar-
beitet, sondern ergaunert. Aus dieser Lebensphilosophie nimmt er sich jetzt
das Recht, an diesem Reichtum durch kleine Diebstähle zu partizipieren. Er
lebt nach dem Motto: „Das Leben muß doch eigentlich Spaß machen, schließ-
lich werde ich bei den Bewerbungen immer wieder abgelehnt.“
Zum Abschluß möchte ich noch Henry vorstellen. Er trug den Aufnäher
„Schwerter zu Pflugscharen“ auch aus Protest bis zur Wende. Er war der
Schule müde und ließ sich in der 8. Klasse „entlassen“. In seiner Freizeit ging
er vielen Hobbys nach, er war sehr kreativ. Er kam dann mit dem Gesetz in
Konflikt. Eine Schlägerei mit einem Mosambikaner brachte Henry eine Ge-
fängnisstrafe ein. Nach der Amnestie ist er in den Westen gegangen. Hier
mußte er lernen, daß es für ihn ums Überleben geht. Er ist jetzt wieder zurück-
gekommen und stellt fest: „Ich bin ein guter Familienvater und ein guter
Klempner geworden.“
Ich möchte im folgenden einen zweiten Gedanken erörtern: Wandel beginnt
nicht erst mit der Wende. Seit den 80er Jahren ist eine zunehmende Politisie-
rung im Mentalitätswandel unter Jugendlichen zu erkennen. Ich habe als Lan-
desjugendpfarrer in den Tätigkeitsberichten – ich kann Ihnen diese zeigen –
immer wieder beschrieben, wie die Jugendlichen zu dieser Zeit, als Seismo-
graphen für zukünftige kirchliche wie gesellschaftliche Entwicklungen zur
Verfügung standen, und wie sie ihre Akzente setzten. Ich will das jetzt in der
Kürze der Zeit nicht wiederholen, Sie können das in dem ausgeteilten Papier
auch nachlesen.
In einem dritten Punkt möchte ich auf die Folgen des Wandels von Arbeits-
markt und Sozialordnung für Jugendliche eingehen. Hier läßt sich als erstes
konstatieren, daß der gesellschaftspolitische Wandel die junge Generation
prägt und von ihr geprägt wird. Die raschen politischen, ökonomischen und
sozialen Umwälzungen führen einerseits zu großartigen Chancen für den per-
sönlichen Lebensentwurf, andererseits führen sie oft zu erheblichen Orientie-
rungskrisen und brisanten Verunsicherungen. Zweitens muß man hierbei an-
merken, daß der ökonomische Modernisierungsprozeß berufliche Entwick-
lungsmöglichkeiten bietet sowie Gefährdungen für die berufliche Existenz in
sich bürgt. Als Folgen des ökonomischen Modernisierungsprozesses – nach