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derlosigkeit außerordentlich weit verbreitet ist. Man hat hier individuelle
Schicksale in zweifacher Hinsicht. Einmal konnte der ursprüngliche Wunsch,
der in der DDR bei allen Frauen bestand, mit Kindern zu leben, nicht verwirk-
licht werden, und man wird eine Gruppe haben, die, wenn sie älter wird und
auf Pflege angewiesen ist, nicht mehr über das familiäre Netzwerk nach unten
verfügt. Diese Gruppe von Menschen wird demnach nicht über Kinder verfü-
gen, die im familiären Bereich Pflege übernehmen könnten. Man wird also ei-
ne Gruppe haben, die in starkem Maße auf institutionelle Pflege angewiesen
ist. Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, steht im Zusammenhang
mit dem dominierenden demographischen Trend der letzten 100 Jahre. Es geht
um das Altern der Bevölkerung. Wenn Sie bitte die vorletzte Seite aufschla-
gen, dort ist der Altersaufbau der Bevölkerung zwischen 1910 und 2040 darge-
stellt. Man erkennt, wie sich in einem Zeitraum von etwas mehr als 100 Jahren
dieser Altersaufbau von stark besetzten jungen Jahrgängen von einer Pyrami-
denform in eine Art Glockenform geändert hat, wo die am stärksten besetzten
Altersjahrgänge um das 70. Lebensjahr liegen. Der Geburtenrückgang in den
neuen Bundesländern hat zum Voranschreiten dieses Alterungsprozesses bei-
getragen. Er hat ihn aber nicht ausgelöst. Der Auslöser dieses demographi-
schen Wandels ist der Geburtenrückgang, der schon zu Beginn unseres Jahr-
hunderts stattgefunden hat, und die Zunahme der Lebenserwartung der über
60- und über 70-jährigen Menschen bzw. der Rückgang der Alterssterblichkeit.
Die Situation in den neuen Bundesländern hat diesen Prozeß nur verstärkt.
Gesprächsleiter Abg. Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzli-
chen Dank, Herr Dr. Dorbritz. Wir machen gleich weiter mit dem Kurzbeitrag
von Herrn Dr. Schwitzer zu der Lebenssituation alter Menschen. In diesem
Vortrag geht es auch, ausgehend von der sozialen Lage der Menschen in der
DDR, um die Beantwortung der Frage, wie alte Menschen auf diesen Trans-
formationsprozeß reagieren. Akzeptieren ältere Menschen den Transformati-
onsprozeß? Wenn ja, in welchem Ausmaß? Wie einschneidend ist er, gerade
für diese Gruppe auch im Unterschied zur Jugend. Wie ist die gesellschaftliche
Rolle dieser Menschen im Verlaufe dieses Prozesses? Ich bitte Sie um Ihren
Beitrag, Herr Dr. Schwitzer.
Dr. Klaus-Peter Schwitzer: Ich wurde vor 50 Jahren in Berlin, in der sowjeti-
schen Besatzungszone, geboren, bin dort bis zum Abitur zur Schule gegangen,
habe anschließend die Berufe Koch, Kellner, Journalist, Philosoph und Sozio-
loge erlernt und auch ausgeübt. Zwischenzeitlich habe ich auch als Fräser ge-
arbeitet und war in den letzten sieben Jahren der DDR im selben Institut wie
Kollege Dorbritz tätig, im Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akade-
mie der Wissenschaften. Nach der Abwicklung war ich einer von denen, die in
das Wissenschaftlerintegrationsprogramm gekommen sind, das bekannterwei-
se zu Ende gegangen ist. Seitdem habe ich viel Arbeit, werde aber seit dem
1. Januar vom Arbeitsamt unterstützt. Sie sehen, ich fühle mich erst einmal
nicht als Verlierer und hoffe, daß ich als 50jähriger natürlich auch noch einmal
Fuß fasse und in der Wissenschaft weiterarbeiten kann.
Weil hier die Scheidungen angesprochen worden sind, möchte ich betonen,
daß Scheidungen bei meiner Kohorte relativ selten vorkamen. Ich bin seit 26
Jahren mit der gleichen Frau verheiratet. Wir haben für DDR-Verhältnisse re-
lativ spät ein Kind bekommen, es ist eine Tochter. Sie ist jetzt 22 Jahre alt und
studiert.
Ich möchte noch zwei Vorbemerkungen zum Beitrag machen. Es handelt sich
um die Ergänzung des Ihnen vorliegenden Kurzbeitrages, in dem 5 Tabellen
(Hinweis: Tabellen und Abbildungen in Anlage 5) enthalten sind, auf die ich
mich inhaltlich beziehe. Zweitens fange ich, da zu solch relativ späten Stunde
mitunter die Konzentration nachläßt, mit der Zusammenfassung an:
Erstens: Die älteren Mitbürger sind die Gewinner der Einheit. Nachdem wir so
viel über Verlierer gesprochen haben, möchte ich die Gewinner herausheben.
Vielleicht gehört es zu den Kuriositäten der deutschen Vereinigung, daß die
Aufbaugeneration der DDR, die wahrhaftig nicht zu den Wegbereitern und
Aktivisten der Wende gehört hat, in den Genuß einer sozial gesicherten Zu-
kunft, auch in den Genuß einer gesicherten Zukunft durch den ehemaligen
Klassenfeind kommt.
Zweitens: Die älteren Menschen haben in der DDR nicht besser als heute ge-
lebt, sich aber sozial sicherer gefühlt.
Drittens: Es wird auf Jahre hinaus zwei deutsche Alter geben.
Viertens: Die ostdeutschen Altersrentnerinnen und Rentner sind, sowie auch
ihre Pendants in den alten Bundesländern, gegenüber nachfolgenden Genera-
tionen privilegiert. Aufgrund der Vollbeschäftigung, die keine nachfolgende
Generation mehr auf absehbare Zeit kennenlernen wird, und der höheren Er-
werbsbeteiligung in der DDR, sind Einkommensniveau und Lebensstandard
relativ hoch. Die künftigen ostdeutschen Rentner werden ein solches Niveau
der objektiven Lebensbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht errei-
chen. Wahrscheinlicher sind neue und stärker differenzierte soziale Ungleich-
heiten, wovon vor allen Dingen Frauen betroffen sein werden.
Zur Lebenssituation: Die Entberuflichung des Alters in allen westeuropäischen
Staaten offenbart sich in einem kontinuierlichen Rückgang der Alterserwerbs-
quote. Eine stetige Vorverlegung des durchschnittlichen Erwerbsaustrittsalters
fand in der DDR nicht statt. Der Einbruch kam erst mit dem Zusammenbruch
der sogenannten sozialistischen Staaten sowie nach der Währungs- und Wirt-
schaftsunion. Für die älteren Menschen in den neuen Bundesländern – als älte-
re Menschen zähle ich Menschen 55 Jahre, aufgrund der Vorruhestandsrege-
lungen – sind Arbeitslosigkeit und Frühverrentung neue soziale Erfahrungen,
die sie, angesichts der zentralen Stellung, die die Erwerbstätigkeit im Leben
der DDR-Bürger eingenommen hatte, vor tiefgreifende Probleme stellt und
Unzufriedenheiten mit sich gebracht haben. Arbeit war in der DDR mehr als
lediglich ein Mittel zum Gelderwerb. Hier spielten bei älteren Menschen auch
die sehr niedrigen Renten eine größere Rolle. 1989 waren in den ersten 5 Jah-
ren nach dem Eintritt in das Rentenalters fast 30 % der Frauen und 23 % der