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Seele verzichtete sogar auf ein christliches Begräbnis, um den Kindern unnöti-
ge Schwierigkeiten zu ersparen. Der Mangel in der DDR hatte unzählige Er-
scheinungsformen, er bestimmte das alltägliche Leben, entwürdigte Menschen,
hielt sie in Unmündigkeit und schränkte sie in ihren Lebenschancen ein. Viele
hat es das Leben oder die Gesundheit gekostet. Der Mangel in der DDR wurde
zum Selbstläufer. Wo es an so vielem fehlte, mußte es an immer neuen Punk-
ten zu weiteren Mängelerscheinungen kommen. Der Mangel in der DDR war
systembedingt! Die sozialistische Gesellschaftsordnung und Planwirtschaft
konnten die Gleichheit fast aller nur auf der Ebene des Mangel organisieren.
Zu mehr hatte es in der DDR und auch in den anderen sozialistischen Staaten
niemals gereicht.
An seinen Mangelkrankheiten ist der Sozialismus schließlich zugrundegegan-
gen. Und an der Behebung der Folgen dieser sozialistischen Mängelkrankhei-
ten werden wir noch lange Zeit zu tragen haben. Die Kosten dafür werden
heute in Milliardenhöhe kalkuliert. Wenn die vielfältigen Erscheinungsformen
des Mangels in der DDR, die auch die offenen und verdeckten Subventionen
gaus der Bundesrepublik allenfalls zu mindern vermochten, trotzdem nicht den
ganzen Alltag der DDR ausmachten, dann hat das mit der Kraft der Menschen
zu tun, die zwischen Selbstbehauptung und Anpassung zahlreiche Bewälti-
gungsstrategien entwickelten. Sie ließen sich vom Mangel nicht überwältigen
und jagten schließlich die davon, die in ihrer ideologischen Verblendung die
alleinige Verantwortung für die Mangelgesellschaft in der DDR trugen und
sich selber durch zahlreiche Privilegien ein angenehmeres Leben sicherten. Im
Herbst 1989 gingen die Menschen auch deshalb auf die Straße, weil sie die
von den SED-Machthabern organisierte Mangelgesellschaft endgültig satt
hatten. Ich danke Ihnen.
Vorsitzender Rainer Eppelmann: Herzlichen Dank, lieber Peter Maser. Wir
kommen zum nächsten Referat. Dr. Lindenberger wurde 1955 in Heidelberg
geboren, studierte von 1975 bis 1982 Geschichte und Philosophie in Berlin,
promovierte 1992 und ist seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum
für zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine aktuellen Arbeitsgebiete sind
Politik und Sozialgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Polizeige-
schichte und Alltagsgeschichte. Darum haben wir ihn eingeladen, und wir sind
froh, daß er da ist. Wir begrüßen ihn herzlich und bitten ihn ums Wort.
Dr. Thomas Lindenberger: Vielen Dank. Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte zunächst mit der kurzen Frage beginnen: Was bedeutet der von
meinen Vorrednern festgestellte und auch positiv begrüßte Wechsel von einer
traditionellen Politikgeschichte zu alltagsgeschichtlichen Betrachtungsweisen,
wenn wir ihn konkret auf die DDR beziehen? Zunächst: Es genügt nicht, nach
den Institutionen und Funktionären der Diktatur und ihres weitverzweigten Sy-
stems von Vasallen, Mitarbeitern, ob formell oder informell, zu fragen. Gleich-
rangig ist auch die Frage danach zu stellen, wie die in der DDR lebenden Men-
schen sich die von der SED oktroyierten Herrschaftsverhältnisse aneigneten,
wie sie sie deuteten und wie sie sich ihnen gegenüber verhalten konnten und
wollten. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, nicht die Geschichte „der“
DDR, sondern auch die der in der DDR lebenden Menschen in den Mittelpunkt
zu rücken. Dabei spielen in der Arbeit der historischen Rekonstruktion Erinne-
rungen und in den Erinnerungen aufgehobene Erfahrungen eine zentrale Rolle.
Zugleich heißt dies jedoch ein „Gelände“ der historischen Erkundung zu be-
treten, das mittlerweile mit Tretminen aller Art in Gestalt von Empfindlich-
keiten, Vorurteilen und Vorbehalten nur so gepflastert scheint. Und dies nicht
ohne Grund, denn wir leben im Jahr acht nach dem demokratischen Aufbruch
von 1989, das auch das Jahr sieben des vereinigten Deutschlands und der
marktwirtschaftlichen Umgestaltung Ostdeutschlands ist. Bei unseren heutigen
Feldforschungen stoßen wir mehr denn je auf die Prägung der Erinnerungen an
die DDR durch die Ereignisse der letzten Jahre. Das wirft mehrere Probleme,
vor allem methodologischer Art auf, die ich hier nicht ausbreiten will. Je nach
befragter Generation spielen Verlusterfahrungen nach 1989 in der Konstrukti-
on und Darstellung der eigenen Lebensgeschichte eine andere Rolle. Gemein-
sam ist ihnen jedoch die Tendenz zur nostalgischen Rückschau auf die Le-
bensverhältnisse in der DDR. Zur durch die SED als Ideal proklamierten Ho-
mogenisierung und Egalisierung von Lebensbedingungen kommt nun, so will
es bisweilen scheinen, eine retrospektive Homogenisierung von erinnerter Er-
fahrung hinzu.
Es kann nun aber hier und heute nicht darum gehen, damalige „Realität“, so
wie wir sie aus Dokumenten und anderen, gegenläufigen Erinnerungen rekon-
struieren können, gegen diese heutige Befindlichkeit zu stellen, letztere sozu-
sagen mit harten Fakten als bloßes Wunschdenken zu entlarven. Das hieße in
ähnlich bevormundender Weise, wie das früher kommunistische Heilsbringer
mit ihrer Rede vom „falschen Bewußtsein“ gegenüber verstockten Arbeitern
gemacht haben, einen einseitigen Wahrheitsvorsprung zu reklamieren.
Es versteht sich ferner von selbst, daß die Auswertung von narrativ-biographi-
schen Interviews immer von der Strukturierung der Erzählung des Inter-
viewpartners durch seinen gegenwärtigen lebensweltlichen Kontext ausgehen
muß. Das gilt für jeden Zeitpunkt und jede Situation der Erhebung und ist je-
weils angemessen zu berücksichtigen, ebenso wie der für derartige Forschun-
gen generelle Vorbehalt, daß auf diese Weise nie im quantitativen Sinne „re-
präsentative“ Lebenserinnerungen erhoben werden können.
Dennoch erscheint es mir angesichts der zur Zeit besonders empfindlichen
oder auch nostalgischen Stimmungslage, auf die wir bei Erhebungen zu All-
tagserfahrungen in der DDR stoßen, lohnenswert, unsere Materialbasis ein we-
nig zu verbreitern. Die Erfahrungen der DDR-Bewohner sind ja glücklicher-
weise nicht erst seit jüngster Zeit Gegenstand des historischen Interesses.
Schon in den Jahren vor ihrem unverhofften Ende und unmittelbar danach
wurden erste Befragungen durchgeführt und Ergebnisse veröffentlicht. Ich
schlage vor, für unseren heutigen Anlaß einige dieser Befunde, in denen der
Alltag der DDR ungebrochener, ohne die Schockwirkungen der sich in die