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der Auffassung war, daß ihre wesentlichen Bedürfnisse in der qualitativ anders
konstruierten Konkurrenzgesellschaft der Bundesrepublik besser befriedigt
werden könnten. Diese Situation verschärfte sich, als sich immer mehr die
Gewißheit durchsetze, daß sich die wirtschaftliche Unterlegenheit des Sozia-
lismus weder kurz- noch mittelfristig beheben und sich damit auch die Lücke
zum höheren Lebensstandard der Bundesrepublik nicht schließen läßt.
Aus dieser Konstellation ergab sich, daß selbst dann, wenn die SED-Führung
die Absicht gehabt hätte, einen Demokratisierungs- und Liberalisierungspro-
zeß im Rahmen einer Verfassung, in der die sozialistischen Grundlagen des
Gemeinwesens festgeschrieben worden wären, einzuleiten, sie damit hätte
rechnen müssen, daß die dann gegebenen Möglichkeiten der freien Meinungs-
äußerung und der Parteienbildung genutzt werden, um die sozialistischen Re-
striktionen einer solchen Verfassung auszuhebeln. Insofern hatten – und es
fällt schwer dies zuzugeben – die „Hardliner“ im Politbüro Recht, denen of-
fenbar klar war, daß unter den gegebenen Bedingungen einer drastischen öko-
nomischen Unterlegenheit jede Abgabe von Macht das Experiment als ganzes
in Frage stellt. Wer so dachte, hatte ein zutreffendes Gespür dafür, daß das Sy-
stem nicht demokratisierbar und nicht liberalisierbar war. Aus diesem Grunde
aber mußte man – und hierin besteht das unauflösbare Dilemma des Realso-
zialismus – auf der Zentralisierung und Monopolisierung aller relevanten Ent-
scheidungsbefugnisse in Wirtschaft und Gesellschaft beharren, womit wesent-
liche Ursachen für Motivationsverluste und Apathie, für bürokratische Ver-
krustungen und Innovationsschwächen, für Funktionsstörungen und Stagnation
und somit letztlich für wirtschaftliche und soziale Ineffizienz verschärft wur-
den. Die sinkende Attraktivität des Systems erschwerte wiederum den
Machterhalt und zwang die Machthaber zum verstärkten Einsatz derjenigen
Instrumente, die gerade die geringe Attraktivität des Systems ausmachten oder
sie mitverursachten.
Gesprächsleiter Ilko-Sascha Kowalczuk: Vielen Dank. Auf meiner Redner-
liste stehen jetzt elf Wortmeldungen. Ich würde vorschlagen, daß wir in zwei
Blöcken vorgehen, und möchte vorab alle Diskussionsteilnehmer eindringlich
auffordern, ihre Beiträge kurz und knapp zu halten. Wir haben noch 45 Minu-
ten zur Verfügung. Es beginnt Herr Eppelmann, anschließend Herr Gutzeit.
Abg. Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Der Vortrag von Dr. Wolle und der
Beitrag von Karl-Heinz Baum haben ja immer wieder Lachen unter uns her-
vorgerufen. Man hatte fast den Eindruck, die beiden hätten mit dem, was sie
gesagt haben, auch in einer Kabarettveranstaltung auftreten können. Das Gan-
ze ist aber eine Beschreibung der Wirklichkeit gewesen, Dank der klugen Po-
litik der Partei der Arbeiterklasse. Und oft, wenn man es denn erlebt hat, war
es ausgesprochen ärgerlich und mühselig. Vor diesem Hintergrund würde ich
gerne noch einmal die beiden eben von mir genannten Dr. Wolle und Karl-
Heinz Baum fragen: Könnten Sie sagen, wie gezielt tatsächlich diese Möglich-
keiten des Wohlstands eingesetzt wurden und die Waren, die Mangel waren?
Es war doch ein Privileg oder etwas Erstrebenswertes, sie zu bekommen. Nicht
jeder hatte das. Beim Kaffee war es noch was anderes. Aber ich denke an den
VW-Golf, als der eingeführt wurde, gab es den nur für gute Mitarbeiter oder
verdiente Genossen, und nicht im Ladenverkauf, zumindest nicht in den ersten
Jahren, wo ihn jeder hätte bekommen können. Wie war es mit Fliesen, mit far-
biger Sanitärkeramik oder finnischen Armaturen? Die hat nicht jeder bekom-
men oder es gab Leute, die hatten quasi das Gewohnheitsrecht, alle zwei Jahre
einen neuen Lada zu fahren. Das ist aber nicht der normale Werktätige in der
Deutschen Demokratischen Republik gewesen. Oder, um nur ein Beispiel zu
nehmen: Als die Intershops in der Deutschen Demokratischen Republik einge-
führt wurden, gab es den normalen oder halbwegs normalen DDR-Bürger, der
in diesen Intershop-Läden einkaufen konnte, wenn er Westverwandte hatte
oder jemanden kannte, der Westgeld hatte. Nur dann konnte er es tun. Nach
meinem Wissen sind da die Waren am teuersten gewesen. Dann gab es In-
tershops auf der Autobahn, wo nur Westdeutsche kaufen durften. Da sind die
DDR-Bürger nicht hineingekommen. Da war es schon ein Quentchen billiger.
Und dann gab es Versina-Läden, zum Beispiel in Berlin, da durften nur Jour-
nalisten, in der DDR akkreditierte westliche Journalisten, und Diplomaten kau-
fen. Da war es noch einmal billiger. Und am allerbilligsten war es in Läden,
die nur für Mitglieder des Politbüros und ähnliche Leute da waren, die dort
Westprodukte für Ostgeld bekommen haben. Für meinen Eindruck ist das
nicht Zufall gewesen, sondern das ist bewußt eingesetzt worden. Dazu würde
ich gerne etwas hören wollen, genauso zu der Ausgabe von Reisepässen. Es
hat ja auch in der DDR Bürger gegeben, die einen ständigen Reisepaß hatten,
die praktisch jeden Tag rüberfahren konnten. Mir fallen einige auch nament-
lich ein, von denen ich weiß, daß die so etwas hatten und die unkontrolliert in
beide Richtungen kommen konnten.
Gesprächsleiter Ilko-Sascha Kowalczuk: Vielen Dank. Als nächster ist Herr
Gutzeit dran. Anschließend Herr Poppe.
Sv. Martin Gutzeit: Ich möchte noch einmal das Thema „Kompensation“ an-
sprechen, und zwar ideologische Kompensationsbemühungen. Die DDR war ja
von ihrem Anfang an eine Gesellschaft großen Mangels gewesen, und ideolo-
gische Floskeln dienten im hohen Maße dazu, damit umgehen zu können. Nun
ist für mich die Frage: Wie schätzen Sie es ein, Herr Wolle, welche Reichwei-
te, welche Bedeutung haben solche ideologischen Verarbeitungsmodelle in
dieser Mangelsituation gehabt? Welchen Bereich der Bevölkerung haben sie
tatsächlich überzeugt? Und zweitens möchte ich fragen, welche Rollen spielen
derartige Gedankengänge, sozusagen, im Nachgang für die Interpretation von
DDR-Wirklichkeit? Ich meine das Thema „Nostalgie“. Eine Bemerkung zu
Herrn Fritze. Sie sagten, daß im Herbst 1989, in der Bürgerbewegung im star-
ken Maße nur der Wunsch nach einem verbesserten Sozialismus, nach einer
verbesserten DDR vorhanden war. Also ich habe da eine andere Wahrneh-
mung, jedenfalls in den Szenen, in denen ich mich befand, gab es sehr wohl
auch andere Modelle, die sich tatsächlich an dem westlichen marktwirtschaft-
lichen System orientierten und eine parlamentarische Demokratie im Auge
hatten. Hier wäre noch einmal die Frage, auch an Herrn Wolle, wieweit sehen