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Wahlperiode 13, Band V, Seiten 142 und 143
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Protokoll der 32. Sitzung

setzung der schon längst erfahrenen Vormundschaftlichkeit und Abhängigkeit
erlebt wird. Das Untertanensyndrom wird dadurch verschärft.

Man kann die unterschiedlichen Ost- und Westsozialisationen so zusammen-
fassen, daß die ostdeutsche Unterwerfungsbereitschaft die passive Erlösungs-
hoffnung und die Fürsorgementalität die westdeutsche Dominanz, das Ge-
winnstreben, die aktive Machermentalität und Durchsetzungsfähigkeit provo-
ziert haben und andersrum. – also eine wechselseitige Verstärkung der Einsei-
tigkeiten in der psychosozialen Entwicklung. Repräsentative Befragungen füh-
ren inzwischen zu Befunden, die deutlicher denn je die Fremdheit und Ver-
schiedenheit zwischen Ost- und Westdeutschen hervorheben. Ostdeutsche ge-
hen, so ihre Selbsteinschätzung, stärker als Westdeutsche auf andere zu, sie
beschreiben sich als weniger aggressiv, halten sich für fleißiger und arbeitsa-
mer, glauben, gefühlsstärker zu sein, erleben sich als engagierter und interes-
sierter. Daß eine Protesthaltung in dieser Selbsteinschätzung liegt, kann man
sehr deutlich spüren. Dabei spielen Unterschiede von Geschlecht, Alter,
Wohnort, und Bildungsgrad keine Rolle. Wichtiger als diese Parameter ist die
Zugehörigkeit zum Westen oder zum Osten.

Folgt man den Daten der empirischen Sozialpsychologie, z. B. Richter, die ei-
ne repräsentative Selbstbefragung von Ost- und Westdeutschen mit dem Gie-
ßen-Test durchgeführt haben, kommen Ergebnisse heraus, daß sich die Ost-
deutschen gegenüber den Westdeutschen zwar unsicherer, gehemmter, abhän-
giger, aber auch sozialer, wärmer, zufriedener, eher auf Familie und Freund-
schaft orientiert, geselliger, kontaktoffener und erdverbundener erleben. Ost-
deutsche bevorzugen ein ruhigeres, einfacheres, sichereres, geregelteres Leben
mit weniger Streß und in größerer sozialer Verbundenheit.

Die Westdeutschen hingegen erleben sich gegenüber den Ostdeutschen unab-
hängiger, freier, individualistischer, selbstbewußter, redegewandter und durch-
setzungsfähiger, aber auch oberflächlicher, bindungsärmer, gieriger, süchtiger,
orientierungsloser, mit Gefühlsverflachung. Auf äußere Lebensumstände rea-
gieren Westdeutsche empfindlicher, unzufriedener und anspruchsvoller als
Ostdeutsche.

Es gibt auch Untersuchungen, daß die Denkstile zwischen Ost- und Westdeut-
schen unterschiedlich sind. So denken Ostdeutsche gründlicher, analytischer,
sie bemühen sich mehr, zu verstehen und zu planen. Man nennt das einen de-
duktiv-analytischen Denkstil. Westdeutsche dagegen denken unsystematischer,
kreativer, aber auch erfolgsorientiert-oberflächlicher, und das nennt man einen
induktiv-essayistischen Denkstil.

Ich möchte zusammenfassend sagen, daß erst heute, sieben Jahre nach der
Vereinigung, die Folgen der unterschiedlichen Sozialisationen in Ost und West
deutlicher und bewußter geworden sind. Dabei spielt das gescheiterte Bemü-
hen um eine schnelle oberflächliche, psychosoziale Angleichung eine wesent-
liche Rolle, da äußerer Wohlstand, soziale Sicherheit und psychologisches
Geltungsbedürfnis für viele Ostdeutsche nicht in Erfüllung gegangen sind. Der

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Selbstbehauptung und Anpassung

reale Vollzug der Vereinigung hat vorhandene Fehlentwicklungen im Sinne
des „Untertanen-Syndroms“ richtungsweisend verstärkt, und gleichzeitig erle-
ben dabei viele Ostdeutsche westliche Lebensbedingungen als vergleichsweise
einseitig und fehlentwickelt, so daß deren Attraktivität in den sieben Jahren
nach der Wende zunehmend in Frage gestellt wird.

Gesprächsleiter Prof. Dr. Reinhard Mocek: Danke. Wir haben schon sechs
Wortmeldungen. Es beginnt Herr Kowalczuk, dann folgt Herr Jacobsen.

Sv. Ilko-Sascha Kowalczuk: Es fällt mir nicht leicht zu beginnen, Herr Maaz.
Nach ihrer Analyse und der folgenden Diskussion muß ich selbst für mich be-
fürchten, in ein psychologisches Raster hineingestellt zu werden, das mir na-
türlich nicht lieb ist. Dennoch will ich den Versuch wagen. Als erstes würde
mich interessieren, auf welcher empirischen Grundlage Ihre Sicht denn eigent-
lich basiert. Ich habe die Vermutung, die ich hier äußern darf, daß Ihre sozial-
psychologischen Deutungs- und Argumentationsmuster vor allen Dingen aus
der Praxis geboren werden, das heißt, daß sie geprägt werden von den Bevöl-
kerungskreisen, mit denen Sie beruflich zu tun haben. Dadurch ergibt sich aber
das Problem, daß Sie es nur mit einer Minderheit zu tun haben. Meine zweite
Frage betrifft die von Ihnen konstatierten Schuldgefühle, Abhängigkeiten, die
Unbefangenheit, Unterwerfungsbereitschaft. Das sind sicherlich Eigenschaf-
ten, die mir bekannt sind und die ich Ostdeutschen zuschreiben würde, die ich
aber genauso als Typenbeschreibung für den Westen anwenden könnte.

Wenn ich mir diese Sklavenmentalität betrachte, die mit Begriffen wie Macht
und Geld verbunden ist, dann scheint mir das wenig systemspezifisch zu sein,
sondern mit ganz anderen Prinzipien zusammenzuhängen. Deshalb würde
mich interessieren: Welche Möglichkeiten gab es denn zum Ausbrechen aus
einem solchen repressiven Erziehungsprozeß, wie Sie ihn beschrieben haben?
Eine dritte Anmerkung: Sie haben gesagt, daß der Prozeß, den wir jetzt beob-
achten können, aus sozialpsychologischer Sicht zu erwarten war. Meine Frage:
Warum konnte man das dann in Ihrem Buch über den „Gefühlsstau“ nicht le-
sen?

Gesprächsleiter Prof. Dr. Reinhard Mocek: Danke. Jetzt Herr Jacobsen und
dann Herr Burrichter.

Sv. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Adolf Jacobsen: Herr Maaz, zunächst möchte ich
mich für Ihre hochinteressanten Ausführungen, die meiner Meinung nach ein
vorzüglicher Ausgangspunkt für eine vertiefte Diskussion sein können, bedan-
ken. Sicherlich werden wir diese aus Zeitgründen nicht in allen Fällen zu lei-
sten vermögen. Sie haben die sozialen Bedingungsfaktoren herausgestellt, die
überzeugen, was den Umbruch 1989/1990 angeht. Ich möchte eine Bemerkung
machen, die sich auch auf das äußere Umfeld bezieht. Sie haben den Versuch
gemacht, gewisse Vergleiche herauszuarbeiten bezüglich der Ausgangspositi-
on 1945 sowie 1989/1990. Die äußeren Bedingungsfaktoren dieser beiden
Daten waren ja radikal unterschiedlich. Hat sich das auch ausgewirkt? Im Jah-
re 1945 gab es eine totale Niederlage, die Bankrotterklärung einer Ideologie,